Ich hatte mich bisher nicht mit Anne Spiegel befasst. Als das Hochwasser im letzten Sommer Menschen tötete und verheerende Schäden anrichtete, war ich schwer krank und bekam wenig davon mit. Dann gab es immer „größere“ Nachrichten: Bundestagswahl. Impfgegner. Ukraine. Der parallel arbeitende Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe zog an mir vorbei. Folglich hatte ich auch keine Meinung zu unserer jetzt Ex-Familienministerin.
Erst nach ihrem Statement, ihrer öffentlichen Entschuldigung am Sonntagabend las ich mich ein – und der ganze Vorgang lässt mich nicht mehr los. Warum?
Ich finde es natürlich nicht gut, wenn Politiker_innen Sachverhalte verschweigen oder sogar lügen. Ich stelle es mir sehr schwer vor, wenn jede SMS öffentlich gemacht werden kann – ich schreibe selber so flapsig, dass ich eine derartige Karierre wohl nie machen könnte. Es gehört aber zum Job, Transparenz auszuhalten – wenn man dann schlecht da steht, hat man das selbst zu verantworten.
Absolut gut, wenn Politiker_innen ein Privatleben haben.
Ich finde es absolut, und das möchte ich betonen, ABSOLUT gut, wenn Politiker_innen ein Privatleben haben. Und damit meine ich nicht Frau und Kinder irgendwo am anderen Ende des Landes. Sondern ein echtes Gestalten dieses Lebens, eine echte Kommunikation und natürlich auch Sorgearbeit. Ich mag ihm Unrecht tun, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Friedrich Merz weiß, in welchem Alter seine Töchter trocken geworden sind, wie ihre besten Kindergartenfreund_innen hießen und welches Pausenbrot sie immer vergammeln ließen. Und da sind familiäre Krisen, Krankheiten, Streit noch gar nicht mit eingeschlossen.
Anne Spiegel hat all das offen gelegt, spät, aber wer würde das schon tun, so lange er_sie nicht mit dem Rücken zur Wand steht. Sie hat genau das getan, wovon Frauen im Berufsleben immer abzuraten ist: Sie hat emotional, sichtlich unsicher über Schwierigkeiten in ihrem Privatleben gesprochen. Die (männliche) Presse ist damit überfordert. Sie habe „privateste Dinge“ erzählt (Bullshit, ich habe weder von einer Ehekrise noch von einnässenden Kindern oder Haarausfall gehört). Kanzler Scholz müsse schon aus Fürsorgepflicht für ihren Rücktritt sorgen (Anne Spiegel ist eine erwachsene Frau). Sie sei sehr schlecht beraten worden – ja, Angela Merkel hat sich vermutlich an den Kopf gefasst, aber soll es wirklich ein Tabu bleiben, Gefühle zu zeigen, über Mutterschaft und Familie zu sprechen? Die schlechteste Idee in der ganzen Geschichte war aus meiner Sicht, nicht sofort im letzten Sommer mit der ganzen Wahrheit rauszurücken – aber wie sehr wäre sie auch dann von der Öffentlichkeit zerrupft worden? Es ist leider eine Tatsache, dass ein emotionaler und persönlicher Auftritt der eigene Schwächen thematisiert, zumal von einer einigermaßen jungen Frau, dieser nicht zum Vorteil gereicht. Und um mal schön emotional zu bleiben: Das macht mich unheimlich wütend. Denn in einer politischen Landschaft, die so funktioniert, fühle ich mich nicht repräsentiert.
In einer politischen Landschaft, die so funktioniert, fühle ich mich nicht repräsentiert.
Genau wie Anne Spiegel bin ich Mutter. Ähnlich wie ihr Mann bin ich krank und muss Stress vermeiden. Daher kann ich aktuell nicht arbeiten. Meine Erkrankung ist hochemotional: Depression. Eine Volkskrankheit, übrigens eine, die vermehrt Frauen trifft. Ich bin nicht dumm, ich bin gut ausgebildet, aber in einem Politikbetrieb, der so wie oben beschrieben funktioniert, kann ich nicht arbeiten, also auch nicht meine Interessen vertreten. Kein Problem, dafür gibt es ja die repräsentative Demokratie. Nur: Kann mich eigentlich jemand vertreten, der nicht über Lebenskrisen sprechen darf, der sich dem Leistungsgedanken komplett unterwirft, der kaum Sorgearbeit leistet und mit zwei festgetackerten Grübchen durch den Tag trabt? Ernsthaft?
Wo sind sie, die depressiven Abgeordneten? (Die gibt`s mit Sicherheit!) Die alleinerziehenden Minister_innen? Die pflegenden Angehörigen?
Eine kleine Anregung für den_die nächste Familienminister_in: Richten Sie doch bitte mal einen Arbeitskreis (oder so) ein, in dem geprüft wird, wie man potentiellen Kolleg_innen, die Sorgearbeit für sich oder andere leisten, schwer krank, oder sonstwie benachteiligt sind, unterstützen könnte, um in Bundestag und Regierung mitzuarbeiten. Einfach mal konstruktiv an das Thema herangehen. Fänd ich klasse.
Für Anne Spiegel kommt das freilich zu spät. Kein Maskendeal, keine Fake-Firma in den USA, keine Parteispendenaffäre – einfach nur eine mangelhafte Kommunikation und der gute alte Sexismus haben gereicht. Vier Kinder, ein kranker Mann und die Frage, ob man drüber reden soll. Meine Bitte: Redet drüber, alle. Denn was sollen wir sonst tun.