Russland, Corona und Klimakrise, die Nachrichten türmen sich zur Zeit auf – und trotzdem fand ich letzte Woche auf tagesschau.de diesen Artikel, der mich sofort brennend interessierte. Belästigungen von Pflegekräften durch behinderte Patienten seien kein Einzelfall, würden aber unter dem Deckel gehalten, stand da, und plötzlich fiel mit das Kaffeetrinken des Pastors wieder ein. Das war in den 90ern, ich war 16 oder 17.
Damals war Inklusion noch kein Wort, mit Rechten behinderter Menschen hatte ich mich nie befasst, von geistigen Behinderungen erst recht keine Ahnung. Aber ich war fast erwachsen, der Pastor wohnte in der Nachbarschaft und er brauchte dringend Leute: Einmal im Monat holten Freiwillige die Menschen aus dem Heim für geistig behinderte Menschen ab und unternahmen was (Kaffeetrinken eben), und je weniger Betreuer_innen, desto weniger Teilnehmer_innen, das war klar. Zusammen mit einer Freundin willigte ich also ein, man sagte kurz vorher, dass wir bei den Männern wenn nötig einfach sagen sollten, wir hätten einen Freund – und los ging’s.
Ich war natürlich völlig naiv.
Ich war natürlich völlig naiv. Als ich beim ersten Termin noch länger mit einem der jungen Männer auf seinen Bus warten wusste, wurde ich nicht nur gefragt, ob ich einen Freund hätte, sondern regelrecht bestürmt, diesen zu verlassen. Heute würde ich lachen und eine deutliche Grenze ziehen, damals fühlte ich mich einfach nur massiv unter Druck. Beim nächsten Termin griff mir derselbe Mann mit beiden Händen von hinten an die Brust. Niemand hatte das mitbekommen oder sagte etwas dazu, ich kam auch nicht auf die Idee, um Hilfe zu bitten. Die „nicht behinderten“ Menschen aus der Kirchgemeinde erzählten sich, wie erfüllend der Kontakt zu „den Behinderten“ sei. Wie sollten meine Erfahrungen da reinpassen? Auch hatte ich Angst davor, mich erklären zu müssen, befürchtete, dass das Hauptinteresse von Seiten der Kirchgemeinde womöglich darin liegen könnte, mich als Betreuerin zu halten. Ich wollte aber nicht mehr kommen!
Der junge Mann, der mich so heftig angegrapscht hatte, konnte in dieser Situation keine Verantwortung übernehmen. Der Pastor und die Kirchgemeinde waren nicht präsent. Also blieb alles an mir hängen. Ich schob vor, ich hätte zuviel für die Schule zu tun. Der Pastor fragte noch ein paar Mal nach, aber ich blieb dabei. Damit war die Geschichte vorbei, und bis heute habe ich tatsächlich noch niemandem davon erzählt.
Es macht wirklich Spaß, die Gruppe ist nett, alles ist fein.
Jahre später, Niederlande. Mein damaliger Freund hat mir einen Job vermittelt: er und ich und ein Sozialpädagoge fahren mit einer Gruppe geistig behinderter Menschen segeln. Es macht wirklich Spaß, die Gruppe ist nett, alles ist fein. Und im Prinzip, wie auf jeder Klassenfahrt – immer mal wieder gibt es irgendwelche Aufreger, die man dann klären und nach denen man die Ruhe wiederherstellen muss. Es gibt Pärchen, die schon lange zusammen sind, und es gibt frisch Verliebte. Eine junge Frau mit Down Syndrom bändelt mit einem Mann aus der Gruppe (die Behinderung weiß ich nicht) an, sie haben Spaß. Am letzten Tag, alle packen, gehe ich nochmal durch die Zimmer der Frauen um zu gucken, ob jemand Unterstützung braucht. Quatsch, sagen sie alle, und haben bereits weitaus strukturierter gepackt als ich. Die junge Frau mit dem Down-Syndrom wird von ihren Zimmergenossinnen bestürmt, „was“ zu sagen. Sie sei im Bad gewesen und da sei der junge Mann, mit dem sie sich angefreundet habe einfach reingekommen. Das sei nicht in Ordnung, sage ich ihr, und dass ich es mit dem Gruppenleiter bespräche. Als ich ihn sehe, ist allerdings Stress angesagt: Einer unserer Teilnehmer hat sich abgeseilt. Bis er wieder da ist und alles geklärt ist, ist Schlafenszeit, am nächsten Morgen Aufbruch, und irgendwie vergesse ich, mit ihm zu sprechen.
Wenig später, ich bin schon wieder in Leipzig, ein Anruf: Die Eltern der jungen Frau haben Anzeige gegen den jungen Mann gestellt, der Vorwurf: Vergewaltigung. Mir wird schlecht. Wieso habe ich an dem betreffenden Tag nicht geschaltet? Wir tragen im Team zusammen, was wir beobachtet haben, äußerlich waren die beiden ein Herz und eine Seele, und wenn es einvernehmlichen Sex gegeben haben sollte, dann ginge uns das einfach nichts an. Aber natürlich haben wir sie, die Verantwortung, unsere Teilnehmer_innen vor Übergriffen zu schützen, bzw. Ansprechpartner_innen zu sein.
Letztlich sind geistig behinderte Menschen absolut gefährdet, wenn es um Missbrauch geht.
Was nun wirklich geschehen ist? Wir werden es nie erfahren. Die Polizei hat ermittelt, aber es gab keine stichhaltigen Beweise oder Aussagen. Die junge Frau schien nicht traumatisiert (ein Glück!), und so verlief die Sache im Sande. Letztlich sind geistig behinderte Menschen absolut gefährdet, wenn es um Missbrauch geht, denn ihre Aussagen werden noch stärker angezweifelt, als die anderer Opfergruppen. Das betrifft selbstredend auch den Missbrauch durch nicht behinderte Menschen, das sollte man niemals aus dem Blick verlieren.
Ich jedenfalls habe damals richtig Bockmist gebaut. Es mag dafür gute Gründe geben (keinerlei Ausbildung zum Beispiel), unterm Strich bin ich meiner Verantwortung nicht gerecht geworden.
Jahre vergingen, irgendwann unterrichtete ich Heilerziehungspfleger_innen im Fach Theaterpädagogik und die erzählten mir Geschichten: Von geistig behinderten Menschen, die einsam waren und blieben, von der Frage der Verhütung, und wie Familien damit umgingen, von sexuellen Bedürfnissen, die unerfüllt blieben, und von einigen Pfleger_innen, die in der Spätschicht abends nach 22 Uhr eine Prostituierte anriefen, die regelmäßig ins Heim kam.
Grundsätzlich würde ich immer sagen, dass sexuelle Gewalt, grapschen, bedrängen nichts mit Sex zu tun hat. Eine Menschengruppe aber, die bis in diese intimsten Bereiche hinein reglementiert wird, hat vermutlich nur die Chance, „Gelegenheiten“ zu ergreifen. Das muss furchtbar sein.
Bleibt die Fage: Wer in all diesen Geschichten hat denn wirklich Verantwortung übernommen?
Wieder Jahre später, mein erstes Patenkind wird geboren, es hat Down Syndrom. Schon seine Geburt ist ein Politikum: Über 90% der Kinder mit Down-Syndrom werden abgetrieben. Im Einzelfall würde ich das nicht bewerten, in dieser Masse muss man das meiner Meinung nach bewerten. Einige Jahre später kommt ein zweites Patenkind, ebenfalls schwer behindert. Bei beiden beobachte ich, wie es so läuft mit der Inklusion, mein Interesse an dem Thema wächst. Ich lese Texte von Mareice Kaiser, Ninia LaGrande, Raul Krauthausen. Zum ersten Mal wird mir klar, wie klein wir die Teilnehmer_innen unserer Projekte gemacht haben: Weil wir gar nicht erst versucht haben, Grenzen abzustecken. Weil wir ihnen nicht zugetraut haben, diese zu respektieren. Oder ihre eigenen Grenzen zu benennen. Es gibt sicherlich geistig behinderte Menschen, die all das nicht können. Aber gewiss nicht alle. Wir hätten es wenigstens versuchen müssen.
Meine beiden Patenkinder, das möchte ich am Rande erwähnen, sind beide absolut der Hammer. Aber selbst wenn das nicht so wäre: Sie haben ein Recht darauf, dass man vernünftig mit ihnen kommuniziert. Aktuell vielleicht über Musik und Süßigkeiten. Irgendwann später dann auch über alles andere.