„I think you forgot me“ – #merkelstreichelt

„I think you forgot me“ – so begrüßte mich am letzten Mittwoch ein schwer von Narben gezeichneter Mann im Asylbewerberheim in der Torgauer Straße. Wir hatten uns schon mal unterhalten. Er lächelt fortwährend, spricht überaus freundlich auf englisch, er ist allein in Deutschland und sucht dringend eine Wohnung. Vor einigen Wochen bat er mich dabei um Hilfe. Ich sagte ihm, dass ich mich umhören würde, ihm aber nichts versprechen könne, denn solche Gespräche führe ich immer wieder, und ich habe leider einfach keine Wohnungen. Und auch nicht die Kapazitäten, allen die fragen bei der Wohnungssuche zu helfen. Ich schaffe es nicht. Es sind zu viele.

Zu viele? Moment mal!

„Wenn wir jetzt sagen “Ihr könnt alle kommen”, und “Ihr könnt alle aus Afrika kommen” und “Ihr könnt alle kommen”, das können wir auch nicht schaffen.“ Quelle: Leitmedium

Einen Tag später ging das Video des Gesprächs zwischen der Bundeskanzlerin und einem Mädchen mit Fluchthintergrund durchs Netz. Und ich sage es mal andersrum als viele andere: Sie war keinen Deut besser als ich.

Natürlich  hat sie in ihrer Position einen größeren Gestaltungsspielraum, und ich freue mich sehr, wenn die katastrophale Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ins Blickfeld gerückt wird. Wenn der hashtag #merkelstreichelt trendet, steckt da neben wichtiger Kritik aber auch richtig viel Schadenfreude drin. Man gönnt es der Merkel, jetzt PR-mäßig mal schön in der Klemme zu stecken. Ich gönne es ihr auch, immer druff.

Unangenehm ist mir aber, dass das Bild eines Mädchens, das seinen Standpunkt mutig und eloquent vertreten hat, jetzt als „weinendes Flüchtlingsmädchen“ rumgereicht wird. Unangenehm ist mir auch der Gedanke, dass der eingangs erwähnte Mann mit seinen sichtbaren und unsichtbaren Narben vermutlich nicht dazu taugen würde, Merkel derart in Verlegenheit zu bringen. Und der angetrunkene Mann, der 2 Bänke weiter saß sowieso nicht. Kein gutes Kameramaterial.

Wir freuen uns, dass echtes menschliches Fühlen eine PR-Aktion sprengt? Ich bin dabei! Aber das sollte dann bitte auch menschliche Folgen haben: Nicht ähnliche PR aus der anderen Richtung.

Das kann es doch nicht gewesen sein.

PS: Der Moderator des Gesprächs, Felix Seibert-Daiker, war spitze!

Ein Staat – Erkenntnisse aus dem Bienenland

Eine intensive Woche ist vorbei. Wie immer, wenn mir ein Projekt besonders am Herzen liegt, habe ich mich übernommen und bin krank: Diesen Artikel tippe ich mit Sehnenscheidenentzündung und deshalb mit links.

Trotz Stress und Reibungsverlusten haben wir aber Ergebnisse, die ich fast in einen Umschlag    stecken und nach Berlin schicken möchte. Denn wenn man nur wenige gemeinsame Worte und keine gemeinsame Sprache hat, dann heißt es Farbe bekennen: Ja oder nein? Gut oder nicht gut? Chef oder nicht Chef? Eine soziale Anstrengung, aber auch eine künstlerische Chance.
Einige Momentaufnahmen:

Tag 1

Solveig: Das hier ist ja ein Land…

5 Kinder: Wer  Chef?

Die Chefposition wird uns die ganze Woche lang beschäftigen. Schnell wird klar, dass diese mächtige Position nicht  so mächtig ist, wie die pädagogische Diktatur, die im Hintergrund die Wahl leitet, anregt, dass die Chefs bestimmte Aufgaben erfüllen etc. Könnten wir das anders machen? Uns ist daran gelegen, das Zusammenleben in unserem Staat, unser ganzes Experiment, erträglich zu gestalten. Wir greifen alles auf, was von den Kindern kommt, aber wir geben eben auch Input: Die Chefs (es sind täglich 2, immer frisch gewählt) werden so schnell für Entscheidungen zuständig, die alle betreffen, werden bei Streitigkeiten gerufen und erhalten natürlich auch viel Aufmerksamkeit.

Fast alle wollen Chef werden.

Tag 2: Das System funktioniert. Erster Unmut entsteht allerdings durch die mangelnde Gewaltenteilung: Wenn die Chefs auch Kochen, haben sie zuviel Macht.

Tag 3: Die ersten Petitionen tauchen auf. Lustigerweise oft erstellt von den Chefs. Dabei wird schnell deutlich, dass es nicht für alles, was ein Chef will, auch Mehrheiten gibt. Überhaupt hängt die Macht der Chefs stark von der Gunst der Bienengesellschaft ab.

Kinder, die große Sprachprobleme haben, haben zudem keine echte Chance, zum Chef gewählt zu werden: Verständlich, aber auch frustrierend. Die einzige Position, die ohne Sprache erfüllbar scheint, ist die eines Polizeichefs: Die Rolle wird so interpretiert, einzelne Bereiche durch auf und abgehen zu kontrollieren. Polizei spielen um mit einbezogen zu werden? Die Erwachsenen müssen lachen. Und doch ist das ein interessanter Blick auf diese Position, immerhin von einem Kind, das hierher geflüchtet ist, und mit der Polizei vermutlich einige Erfahrungen hat.

Tag 4: Die Chefs machen nichts. Dinge gehen kaputt. Krisensitzung! Alle fühlen, dass es so nicht weitergehen kann.

Erkenntnis 1: Wir brauchen Chefs, die auf Streit spezialisiert sind!

Die wichtigste Position im Bienenland ist eine Schlichtungsposition. Kein Durchsetzen, kein Bestimmen: Wir brauchen jemanden, der wirkungsvoll schlichten kann. Das geht weit über ein juristisches Entscheiden hinaus, SchlichterInnen kümmern sich um den sozialen Frieden. Ich sehe keine derartige Position auf Bundesebene, die derart Rückhalt hätte, wie unsere Streitchefs. Ein Verbesserungsvorschlag.

Tag 5: Wahl der neuen Chefs. Mit einem ganz klaren neuen Ansatz: Jeder möchte Chef sein und eine Verantwortung übernehmen, die ihm oder ihr auch etwas wert ist. Wir können die Kinder nicht mehr mit symbolischen Positionen abspeisen. Heute bestimmen wir gemeinsam in einem nicht mehr nachvollziehbaren Prozess, mit dem aber alle zufrieden waren: Chefs Streit: deutsch und arabisch-sprachig; Sportchefs: für Ball und Boxsack; Chef Feuer (zusammen mit Solveig); Chefs Kekse und Einkauf von Keksen; Chef Wii; Hausmeister; Küchenchef; Farbenchef

Erkenntnis 2: Alle Bürger fordern lautstark ihre Verantwortung ein. Jede und jeder will ein Amt!

Hier gibt es keine Politikverdrossenheit, aber großen Ärger, wenn jemand bei der Ämterverteilung zu kurz kommt. Lässt sich das auf bestimmte Bevölkerungsschichten in Bundesdeutschland übertragen?

Jedenfalls werde ich nie mehr leichtfertig Verantwortlichkeiten einschränken.

Tag 6: Präsentation. Eine Party, ein Chaos, ein ekstatisches Schwenken der Bienenfahne. Es gäbe noch viel viel mehr zu erzählen. Wir hoffen auf die Anschlussförderung, denn die neue Chefregelung hat sich ja nun erst einen Tag bewähren müssen.

Was vorerst bleibt: Wir haben einen Staat gegründet, in dem heftig gestritten und laut gefeiert wurde. Die Sprachschwierigkeiten waren für alle aufreibend, kulturelle Unterschiede natürlich auch. Es hat aber funktioniert. Mit wenigen Gesetzen, viel Gerangel um Positionen – und schließlich auch mit einem florierenden Postwesen, einer derben Inflation, bevor das Geld wieder abgeschafft wurde und Pässen, die  sich interessierte Bürger einfach selber herstellen konnten.

In diesem Sinne: Wenn ihr einreisen wollt, dann macht euch einen Pass und werdet Bürger.

Das Bienenland ist ganz sicher nicht der schlechteste Ort. Zum Leben und zum Summen.