Soziokultur ist ein Wort, das ich nicht mag.
Soziokultur ist ein Wort, das Kulturinstitutionen einem hinterherrufen, wenn man nicht so toll tanzen kann wie die richtigen Künstler_innen. Soziokultur ist ein Wort, zu dem rotbackige Flüchtlingskinder mit Hartz IV-Senior_innen im Chor Trickfilme schnitzen. Vor allem aber ist Soziokultur ein Wort, dass ich nicht verstehe.
Das mag daran liegen, dass der Begriff in meinem Studium der Theaterwissenschaften kein einziges Mal aufgetaucht ist; weder im Seminar über Arne Sierens und Alain Platel, die beide mit nicht professionellen Schauspieler_innen gearbeitet haben, noch im Seminar über Kinder- und Jugendtheater, schon gar nicht im Zusammenhang mit den zahlreichen Bürgerchören von Einar Schleef bis Volker Lösch. Und ich höre den unausgesprochenen Satz förmlich in meinem Kopf: „Das ist doch keine Soziokultur! Das ist doch richtige Kunst!“ Auch in den Erziehungswissenschaften spielte die Soziokultur keine Rolle, höchstens wurde die kulturelle Bildung mal kurz gestreift. Zurecht, denn Fragen von Erziehung und Sozialisation können zwar wie alle gesellschaftlichen Fragen in der Kunst aufgegriffen werden, nicht aber ist es Aufgabe der Pädagogik, Einfluss auf die Kunst zu nehmen. Damit verlöre die Kunst ihren zweckfreien Charakter, und der sollte uns allen heilig sein.
Was also soll das sein: Soziokultur? Die Bundesvereinigung soziokultureller Zentren erklärt es netterweise gleich auf ihrem Internetauftritt: „Der Begriff Soziokultur beschreibt aber auch eine kulturelle Praxis mit starkem Gesellschaftsbezug, die sich auf sehr verschiedene Weise realisieren kann, immer entlang der aktuellen lokalen Bedürfnisse und Gegebenheiten.“ Und Wikipedia erklärt ganz ähnlich: „Soziokultur ist auch ein Fachbegriff der Kulturpolitik. Er bezeichnet hier eine direkte Hinwendung von Akteuren und Kultureinrichtungen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und zum Alltag.“
Nun gut. Vor vielen Jahren wurde ich mal im Centraltheater gefragt, was ich später mal machen wolle und antwortete spontan: Kunst mit normalen Menschen. Das war natürlich salopp und trotzdem irgendwie richtig, und nach einigermaßen gründlicher Abnutzung durch bürokratische Förderstrukturen frage ich mich inzwischen schon, welchen Begriff man sich für diesen meinen Plan noch hätte einfallen lassen können: Normalokunst? (Übrigens schreibe ich gerade Centraltheater und nicht Spinnwerk, denn sonst werde ich ja doch wieder ins Nichtschwimmerbecken eingeordnet, und auch wenn ich nicht tanzen kann, schwimmen schaffe ich schon. Aber ich schweife ab.)
Wenn die „direkte Hinwendung von Akteuren und Kultureinrichtungen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und zum Alltag“ in der Kunst als Soziokultur bezeichnet wird, woher kommt dann das Unbehagen, das ich unter Kolleg_innen und in den Institutionen hier in Leipzig immer wieder wahrnehme? Wieso soll ich dann in jedem zweiten Antrag die gesellschaftliche Relevanz des Projekts erläutern – mich aber ganz klar zwischen den jeweils zugeordneten Fördertöpfen und Institutionen der Soziokultur respektive Hochkultur entscheiden? Und wieder die Begrifflichkeiten: Soziokultur und Hochkultur, really? Wäre ein besseres Wort für meine Normalokunst dann vielleicht Tiefkultur?
Natürlich geht es hier einfach um die Abgrenzung von Elite von eben den „Normalos“, und wenn die Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren diesen Gegensatz als inzwischen „weitgehend überholt“ beschreibt, dann ist das niedlich. Niedlich deshalb, weil kein Vertreter der Hochkultur auf die Idee käme, sich dergleichen einfach mal ganz oben auf den eigenen Web-Auftritt zu schreiben. Weil es hier einfach nicht als relevant empfunden wird, weil es möglicherweise einen Bedarf gibt, sich abzugrenzen, weil weil weil. Und ja, niedlich ist auch, wie auf Wikipedia die Anfänge der soziokulturellen Zentren beschrieben werden: „Friedens-, Umwelt-, Frauen- oder Jugendzentrumsbewegung suchten nach Freiräumen, die sie häufig in alten Fabriken fanden.“ Also genau die Bewegungen, die sich sowieso lange hinten anstellen durften wenn es um Geld und gesellschaftliche Anerkennung ging, die suchten sich dann auf eigene Faust ihre alten Fabrikhallen um unterfinanzierte Kunst zu machen. Man könnte sich mit ihnen solidarisieren, einfach weil das die Freiheit aller stützen würde, sich öffentlich und kreativ zu betätigen. Aber man kann natürlich auch an „Umwelttheater“ denken. „Friedensperformances“. Oder, Gott sei meiner Seele gnädig: „Frauenkunst“. Dann doch lieber Elite sein?
Bei all dem klärt sich für mich aber immer noch nicht, warum die „Hinwendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und zum Alltag“ einen gesonderten Begriff benötigt. Ist Hochkultur etwa nur jene Kunst, die sich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abwendet?
Nun, vielleicht sind die sogenannten soziokulturellen Projekte an dieser Stelle ja wirklich näher dran. Einige Beispiele aus der eigenen Praxis: 2013 starteten Katharina Wessel und ich das Projekt „Forum frei“, damals gefördert unter anderem durch den Fonds Soziokultur. Unser ästhetisches Material: Menschenverachtende Kommentare aus Internetforen. Ein Jahr später ein Thema, das von Heiko Maas und vielen anderen groß entdeckt wurde. Plötzlich in viel größerem Umfang förderfähig. Wir waren „zu früh“. 2014, wir starten im selben Team das Projekt „Wo die wilden Bienen wohnen“, gründen kurz darauf einen Staat mit geflüchteten und nicht geflüchteten Kindern, das Ganze gefördert durch „tanz+theater machen stark“, einen Topf zur Förderung benachteiligter Kinder. Jetzt, 2017, ist die Staatengründung ein beliebtes Motiv auf deutschen Bühnen. Auch unsere Kolleg_innen von friendly fire haben ihren Staat gegründet. Mit anderer thematischer Gewichtung, mit Erwachsenen, mit Förderung der Hochkultur. Schöne Sache. Aber durften und konnten wir unsere Idee, mit der wir vor drei Jahren anfingen zu arbeiten, nur deshalb entwickeln, weil wir den Auftrag hatten, uns nah an die Kinder uns ihre Lebenswirklichkeit heranzubegeben? Um den Preis, diese Kinder dann bitte auch zu fördern – denn wer frühzeitig nah rangeht, der kann ja dann gleich auch noch pädagogische Aufträge mitnehmen? Zweckfrei fördert die Soziokultur in der Regel nicht. Auch wenn sich das viele Akteure sicherlich wünschen.
Doch wenn wir durch das ganz nahe Herangehen, das ganz sorgfältige Kommunizieren tatsächlich besonders früh bestimmtes Material bergen und erarbeiten könnten – wie toll wäre es dann, wenn wir nicht zwischen Soziokultur und Hochkultur unterscheiden sondern stattdessen einfach zusammenarbeiten würden? Es ist, und davon bin ich überzeugt, eine Kunst, mit Menschen kreativ in Kontakt zu kommen, vernünftig mit der daraus resultierenden Verantwortung umzugehen, eine besondere Begegnung zu erschaffen. Ich nenne das inzwischen nicht Tiefkultur, sondern Begegnungsdesign. Klingt besser, mehr nach bewilligtem Förderbescheid.
Zwischen den Zeilen, das kann ich wohl nicht leugnen, scheint hier eine beleidigte Leberwurst durch, die auf den Begriff der Soziokultur einprügelt, weil es eben auch nicht immer leicht ist, hier eingeordnet zu werden. Weil ich mit meinen Projekten nicht als bunte und lustige Pädagogik wahrgenommen werden möchte, sondern als Künstlerin. Werde ich das nicht? Es gibt da noch einen Aspekt, über den keiner spricht: Soziokultur erhält keine schlechten Kritiken.
Aha, da kann man schonmal sauer werden! Und zwar von beiden Seiten!
Jede_r Künstler_in hat schon Verrisse kassiert, und das ist nicht immer fair. Die sehbehinderten Aquarellmusikant_innen aus dem Plattenbaustadtteil können hingegen den größten Unsinn dichten – die Lokalzeitung wird sich freundlich äußern. Und das muss aufhören. Wenn ich ernst genommen werden will, dann muss ich mich auch Kritik stellen. Selbst wenn die Redakteurin keine Ahnung hat, wie sie die Kindergruppe „nett“ kritisieren soll, wenn der Redakteur nicht zwischen Konzept, Projektleitung und Kindergruppe unterscheiden kann. Sogar wenn der Text ungerechtfertigt, unfair oder schlampig geschrieben ist. Denn ab da wird mir zugetraut, damit fertig zu werden. Ab da bin ich kein einbeiniges Ballettmädchen mehr, das mit dem Fotografieren der Umwelttheatergruppe betraut wurde. Sondern ein Mensch, der sein Bestes gibt. Über alles, was weniger ist, mag ich hier gar nicht geschrieben haben.
Also: Her mit eurer Kritik an diesem möglicherweise ungerechtfertigten, unfairen oder schlampig geschriebenen Text! Danke.