Der Wert von Kunst. Ganz kurz.

Permanent müssen sich Menschen dafür verantworten, dass sie einen nutzlosen Job machen und selber schuld sind, dass sie in prekären Lebensumständen lernen und leben. Ich habe keine Lust mehr, das zu diskutieren. Ich schreibe meine Antwort nun einmal hier auf und werde dann in Zukunft nur noch den Link teilen. Schluss damit, mich immer wieder zu wiederholen.

Ich traf vor einigen Wochen eine äußerst lebhafte Dame, vielleicht 20 Jahre älter als ich und absolut dazu in der Lage, innerhalb von Sekunden eine wilde politische Diskussion anzuzetteln. So stritt sie leidenschaftlich dafür, dass in Deutschland alle Menschen die gleichen Bildungschancen hätten.
Das konnte ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen, PISA-Studie, seit 20 Jahren, blabla, ihr wisst bescheid. Die Chancengleichheit endet in Deutschland spätestens in der Grundschule, alles schön wissenschaftlich belegt.


Ja, hob die Dame wieder an, das möge ja sein, aber sie habe jetzt von Stipendien geprochen, also von der Chancengleichheit im Rahmen eines Universitätsstudiums, da gäbe es doch nun wirklich alle Möglichkeiten.
Hä? Das überraschte mich ja nun wirklich. Also in meinem Studium, wandte ich ein, da hätten ja nun die wenigsten ein Stipendium gehabt, so endlose Möglichkeiten habe es da nicht gegeben… – Jaaaa, antwortete meine Gesprächspartnerin, da müsse man dann natürlich auch Leistung bringen, das sei ja klar!

Was haben Sie denn studiert?

Vor meinem inneren Auge zogen Kommilitonen vorbei, deren Magisterarbeiten den Umfang von Doktorarbeiten hatten, die Monat um Monat in unbezahlten Praktika verbrachten, die auf eigene Kosten nach Berlin fuhren um irgendwelche Inszenierungen anzugucken…
Also ich habe mit 1,1 abgeschlossen, ich glaube nicht, dass es da jetzt um die Leistung geht, antwortete ich leicht zickig.
Was haben Sie denn studiert?
Theater- und Erziehungswissenschaften.
Achsooo… Nun ja, man sollte dann auch schon etwas studieren, was von allgemeinem Interesse ist, was auch gebraucht wird, das ist auch die Aufgabe der Eltern, darauf hinzuwirken, dass ihre Kinder etwas studieren, wovon man auch leben kann…


An dieser Stelle steuere ich die Unterhaltung mal langsam aus. Sie findet natürlich täglich irgendwo statt, permanent müssen sich Menschen dafür verantworten, dass sie einen nutzlosen Job machen und selber schuld sind, dass sie in prekären Lebensumständen lernen und leben. Ich habe keine Lust mehr, das zu diskutieren. Ich schreibe meine Antwort nun einmal hier auf und werde dann in Zukunft nur noch den Link teilen. Schluss damit, mich immer wieder zu wiederholen.

Fakt ist, dass eine Gesellschaft aus vielen Menschen besteht, die miteinander klarkommen müssen.


Also: Gibt es sie, die brotlosen Künste? Na klar! Meine EU-Rente beträgt 600€. Ein Witz.
Kann man daraus ableiten, dass künstlerische Arbeit wertlos ist?
Nein. Natürlich, erst kommt das Fressen, dann die Moral. Das ist aber immerhin schon der zweite Platz, da hat noch keiner seine Steuererklärung gemacht oder den Rasen gemäht.


Fakt ist, dass eine Gesellschaft aus vielen Menschen besteht, die miteinander klarkommen müssen. Aus Identitäten, aus Einzelpersonen und Gemeinschaften. Und es ist absolut wichtig, sich auf all diesen Ebenen zu spüren, kennenzulernen, miteinander umzugehen. Sonst funktioniert das System nicht. Oder es funktioniert eben zu gut.
In einer sächsischen Kleinstadt mit größtenteils rechtsoffenen Bürger_innen wird es immer auch Menschen geben, die sich in dieser Mehrheitsgesellschaft nicht wiederfinden, die anders denken oder fühlen. Die treffen sich nicht im Ingenieursbüro oder in der Anwaltskanzlei. Die treffen sich bei Künstler_innen und Geschichtenerzähler_innen. Bei Sozialpädagog_innen, vielleicht auch in Therapiegruppen. Manchmal in Religionsgemeinschaften. Fast immer bei unterbezahlten Menschen. Wenn es sie nicht gäbe, gäbe es dafür keinen Raum, und ich bin sicher, dass uns der Laden wesentlich häufiger um die Ohren fliegen würde. Vermutlich gibt es auch deshalb ein Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe.


Und das war`s. Eine bessere Bezahlung wäre wünschenswert, aber vorerst wäre es auch schon nett, wenn der Wert von Kunst nicht mehr permanent in Frage gestellt würde. Herzlichen Dank dafür, auch an die Dame, die mir diese Steilvorlage geschenkt hat. Liebe Grüße! Sol

Layla, Winnetou und die Documenta – ein paar Worte zur Freiheit der Kunst

Winnetou, Layla und die documenta – wir diskutieren diesen Sommer hart darum, welche Kunst-/Kulturerzeugnisse wir wollen, und welche nicht. Oft ist dabei von einer übertriebenen Verbotskultur die Rede. Aber vielleicht geht es eigentlich nur um die eine Frage: Ist es denn gut?

Man kann mich mit Fug und Recht als Gutmenschin beschimpfen. Ich wünsche mir, dass jede Form der Diskriminierung abgeschafft wird, bemühe mich darum, eine sensible Sprache zu benutzen und bin prinzipiell geneigt, jedem_r zuzuhören, der_die darauf hinweist, sich von der Gesellschaft benachteiligt zu fühlen. Hoffe ich. Jedenfalls ist das für mich der grundlegendste Wert, den ich habe, und ich wünsche mir, dass das auch für möglichst viele andere Menschen gilt. Dass wir den Umgang miteinander respektvoll gestalten wollen. Amen.


Am allerwichtigsten allerdings ist mir, (und das muss kein Gegensatz sein, kann aber schonmal knallen): Die Freiheit der Kunst. Nicht, weil ich es billigen will, dass unter dem Deckmantel der Kunst Menschen diskriminiert werden, sondern weil die Freiheit der Kunst die Möglichkeit bietet, als Korrektiv zur Gesellschaft aufzutreten und Dinge in die Öffentlichkeit zu stellen, die dort nicht richtig repräsentiert sind. Ein Beispiel: Als das Zentrum für politische Schönheit 2014 die Mauerkreuze aus Berlin stahl um sie an die europäischen Außengrenzen zu bringen, taten sie etwas, was eigentlich gegen das Gesetz verstieß und erschufen ein Ereignis, das auf ein viel größeres und schrecklicheres Verbrechen hinwies -in höchst emotionaler Weise. Ohne die Freiheit der Kunst – und die Bereitsschaft der Macher_innen, sich auf dieses dünne Eis zu begeben – wäre das nicht möglich gewesen. Dafür brauchen wir sie. Auch wenn das keinesfalls bedeutet, dass ich alles gut finde, was unter diesem Deckmantel passiert, auch nicht vom ZpS – man kann sich an dieser Freiheit auch ganz schön verheben. Das nur am Rande.

In diesem Sommer verheben sich so einige an der Debatte.

In diesem Sommer nun verheben sich allerdings so einige in der Debatte. Beispiel 1: Winnetou, weil`s grad so schön aktuell ist. Ich sah gerade einige Beiträge von Medien, die wahrscheinlich ihr wirtschaftliches Wohlergehen über Empörung generieren, verlinken werde ich sie nicht. Las einige Tweets, die mich sehr traurig machten. Und fasse nun zusammen: Deutschland wird von 180 woken Meinungsmachern (sic!) gegängelt, die den Verlag so stark bedrängt haben, dass er feige eingeknickt ist und das Buch (und das Stickerbuch, das Puzzle, die Waschlappen und die Schmerztabletten, denn ein I……r kennt keinen Schmerz, Scherz) aus dem Programm genommen haben. Manchmal werden diese „Linken“ auch „Denunzianten“ genannt. Und dann gibt es noch ein wichtiges Argument: In Deutschland gibt es ja gar keine I……r. Dass das nicht stimmt und dass auch Natives Internet haben und Ländergrenzen deshalb eh irrelevant sind, erwähne ich nur am Rande bzw. verweise auf den Auftritt der Natives auf Instagram.

Wie dem auch sei: Der Verlag hat das Recht, das Buch (und das Poster, und die Badeschlappen und die Tattoovorlage) zu veröffentlichen, er macht es nicht, was sicher finanziell weh tut. Obwohl niemand das Buch verbietet, wird es zurückgenommen. Warum? Weil er gezwungen wird? Wohl kaum, der richtige Shitstorm begann doch erst, nachdem er diese Entscheidung öffentlich gemacht hatte. Möglicherweise (lassen wir den Gedanken einfach mal zu) ist das Verlagsteam vielleicht einfach auf die Idee gekommen… dass die Kritik berechtigt ist? Dass dieses Buch vielleicht nicht genau das Buch zur Thematik ist, dass es jetzt gerade braucht? Oder dass die Argumente der Kritiker_innen ganz schlicht und einfach nicht mehr verschwinden werden und man langfristig – auch aus wirtschaftlichen Gründen – mit der Zeit gehen will?

Vielleicht sollte die Frage gar nicht lauten „Sollte diese Kunst verboten werden?“ – sondern vielmehr: „Ist es denn gute Kunst?“

Dasselbe bei „Layla“ – der Shitstorm begann, als öffentlich wurde, dass das Lied beim Stadtfest nicht gespielt werden würde, „einknickende Denunzianten“ wären vielleicht auch zurückgerudert. Die Sache verhielt sich jedoch anders: Im Jahr zuvor hatten Menschen eine Petition gestartet, damit ein bestimmtes Lied über eine Vergewaltigung nicht mehr gespielt werden würde. Erst danach reagierten Stadtrat und Verwaltung. Die Veranstalter_innen nahmen es aus dem Programm und zogen dann in diesem Jahr von sich aus nach, indem sie auch „Layla“ ausschlossen.

Ich persönlich kann mir eine ganze Menge anderer Lieder denken, die weitaus frauenfeindlichere Texte haben. Aber auch hier greift für mich die Frage: Ist es denn gut? Und ja, „Layla“ mach die Frau zum Objekt und ist ansonsten harmlos. Und Kool Savas, nur mal so als Vergleich, macht die Frau so sehr zum Objekt, dass man fast glauben könnte, dass er es vielleicht nicht so ganz ernst meint und einfach nur selbst die härteste Sau im Stall sein will?! Aber auf dem Stadtfest würde das vermutlich auch nicht funktionieren.

Und dennoch bleibt bei allen genannten Fragen eben nicht die Frage: Müssen wir das verbieten? – es reicht vollkommen, sich zu fragen: Ist es denn gut? Gibt es uns was? Gibt es den Leuten drei Straßen weiter was? Sollten wir Rücksicht nehmen? Dass diese Fragen vielen Menschen völlig egal sind, das ist allerdings ein Problem.

Tja, und dann gibt es natürlich noch die Documenta. Ein riesiges Ereignis, medial, vermutlich auch vorort, ich war nicht da und tue mich schwer damit, mir das alles vorzustellen. Der globale Süden zu Gast in Kassel. Und dann eben Antisemitismus. Die Einschätzungen zur antisemitischen Bildsprache in den Kunstwerken sind absolut plausibel. Die Kritik zur Repräsentation verschiedener Gruppen in den Reihen der Künstler_innen ebenfalls. Aber dann… Viel Empörung, ein Kopf rollt, Entschuldigungen, nächster Skandal. Dass ausgerechnet die „liberale“ Partei vorschlug, die ganze Documenta auszusetzen, ist aus Sicht der Kunstfreiheit natürlich eine super Pointe. Ein Bild, das Antisemitismus reproduziert in Deutschland zu verbieten, kann man diskutieren, klar. Aber ich finde, auch hier greift die schlichte Frage: Ist es denn gut?

Es ist schon um die halbe Erde gewandert, dieses Bild.

Es ist nicht neu, es ist schon um die halbe Erde gewandert, dieses Bild. Noch nie hat es für solche Aufregung gesorgt, wie in Deutschland. Deshalb hätte hier in Kassel unbedingt und ganz ohne Zweifel ein Dialog entstehen müssen, und für diesen gab es kein Konzept. Das ist katastrophal schlecht. Ein schlechtes Konzept. Bei einem Projekt dieser Größenordnung nicht zu entschuldigen. Und nur um das klar zu sagen, ich meine mit „Konzept“ keine Podiumsdiskussion, bei der die immergleichen Haltungen aneinandergeklatscht werden, ich meine eine echte Begegnung mit Menschen, Gedanken, Gefühlen, die uns unbekannt sind. Mit Respekt, Wertschätzung und der Wahrung der Würde aller Beteiligten. Ohne das, kann man es, sollte es sogar ganz einfach lassen.

Ich glaube an Kunst, an die Freiheit der Kunst und daran, dass wir es immer noch besser machen können. Ich bin froh, dass es keine Verbotskultur gibt, jedenfalls nicht in der Form, wie sie auch heute wieder in rechten Tweets besungen wird.

Der einzige Ort, an dem künstlerische Perspektiven hierzulande tatsächlich aussortiert werden (können), ist die Förderpolitik. Und auch da gelten immer dieselben Fragen: Wer ist nicht hier? Wenn sollten wir noch einladen? Und wenn es dann richtig kracht im Gebälk, weil man sich überhaupt nicht versteht: Dann ist es vielleicht gut. Oder auch nicht. Bei der Kunst weiß man nie.

Von meiner Cousine und ihrem Tod

Triggerwarnung: Suizid

Die Menschen wissen über Chamäleons bescheid: Das sind die, die die Farbe wechseln. Die man deshalb nicht sehen kann. Die sich verstecken, obwohl sie direkt vor dir stehen.

Ich will über meine Cousine schreiben. Über die auch viele Menschen bescheid wussten, obwohl sie sie wahrscheinlich nicht sehen konnten. Jeder Versuch, von ihr zu erzählen, fühlt sich an, als versuchte ich etwas festzuhalten, was nicht festgehalten werden will. Als würde ich ihr Gewalt antun, mit den Begriffen, mit denen sie im Laufe ihres Lebens beschrieben wurde: Heimkind, Adoptivkind, Pferdemädchen. Brandstifterin. Sehr dick, sehr dünn, sehr krank.

Und so, wie sich das Leben meiner Cousine schwer greifen lässt, so gilt dasselbe auch für ihren Tod: Sie hat sich am 29. Februar das Leben genommen, am unwahrscheinlichsten Tag überhaupt; ein Todesdatum, das in den meisten Jahren einfach vom Kalender geschluckt werden wird. Und seither gehe ich umher und will nicht, dass es und sie und ihre Geschichte einfach geschluckt werden. Daher dieser Text.

Meine Cousine war, soviel kann ich hier wohl schreiben, schwerst traumatisiert. Bevor mein Onkel und meine Tante sie adoptierten, hing ihr Leben mehr als einmal am seidenen Faden. Alkohol. Gewalt. Vernachlässigung. An ihrer Geschichte habe ich eine vage Vorstellung bekommen, was Eltern ihrem Kind alles antun können, sogar schon bevor es auf die Welt kommt. Als Kindergartenkind kam sie in unsere Familie, meine zweite Cousine. Wir beide hatten eine wichtige Gemeinsamkeit: Wir liebten Pferde. Und dass sie beim Spielen manchmal einfach weglief und nicht zu finden war, das war eben so. Die CDs, die sie mir mit 16 klaute und die mein Onkel mir später wieder brachte – das war eben so. Die immer neuen und immer ernsteren Katastrophen, von denen sie scheinbar permanent umgeben war – das war eben so.

Natürlich war es nicht einfach „eben so“. Natürlich suchten ihre Eltern Wege, ihr Leben und das Mit-ihr-Leben aufzufangen. Nach und nach unterstützt von einer wachsenden Zahl von Fachleuten, verwoben durch teils unsinnige oder zumindest schwer erklärbare gesetzliche Bestimmungen, mal sehr, mal wenig kompetent, integer, engagiert.

Und Fachleute bringen neue Labels mit sich: Essstörung. Borderline. Suizidgefährung. Und und und. Trotzdem fing sie irgendwann an, Brände zu legen, wurde verurteilt, kam in die forensische Psychiatrie, und wenn es einen Ort gibt, an dem sie alles mit dir machen können – nun ja.

Ich könnte noch viele Horrorgeschichten schreiben, von Suizidversuchen und Fixierungen und gegessenen Kuchengabeln, aber eigentlich geht es mir darum nicht. In all den Jahren, in denen sich die Akten über meine Cousine auftürmten, sie mit gigantischen Medikamenten-Dosierungen ruhig gestellt wurde und sie das „wirkliche“ Leben weitgehend verpasste, waren wir schon längst auseinandergedriftet – sie straffällig eingesperrt, ich im Studium und so frei wie noch nie. Ich nahm Anteil, ja, aber mehr auch nicht. Auch nicht, als sich eben doch wieder kleine Gemeinsamkeiten einschlichen: Ein Medikament, das wir beide nahmen. Der Kontakt zu Psychiater_innen und Therapeut_innen. Die Erfahrung, mit Menschen zu sprechen, die so kaputt sind, dass sie einen nur runterziehen können. Eine Kategorie, zu der ich meine Cousine übrigens interessanterweise nie gezählt habe.

Fühlte ich mich ihr deshalb besonders verbunden? Vielleicht ein wenig. Aber lieber zog ich mich darauf zurück, Expertin zu sein und nicht Betroffene. Das fühlte sich sicher an. Wahrscheinlich braucht es einfach gewisse Strategien um sich abzugrenzen, wenn ein Familienmitglied so unberechenbar ist, so verletzt.

Die ganze Zeit über gehörte sie trotzdem zur Familie. Ohne etwas zu beschönigen. Mit viel Abstand: räumlich, sozial, emotional.

Und das ist es, was ich so gern festhalten will, was ich von meiner Cousine gelernt habe und mal besser, mal schlechter spüren kann: Menschen können jede Norm sprengen und dennoch dazugehören. Sogar wenn sie dich beklauen, dir weh tun oder vergessen, wer du bist – sie dürfen da sein. Die Existenzberechtigung, das Ticket in die Welt hängt nicht an erwünschtem Verhalten.

Das ist so, und die große Tragik besteht darin, dass wir Menschen das einfach nicht glauben können. Dass wir einen zutiefst verletzten Menschen nicht einfach so wie er oder sie ist da sein lassen können. Uns selbst in unserem Unvermögen diesen Menschen zu ändern nicht annehmen können. Denke ich, schreibe ich und bin auch nicht sicher, ob ich all das wirklich akzeptieren kann. Und akzeptieren will.

Meine Cousine jedenfalls hat sicherlich nie verstanden, wie erwünscht sie war. Sie hat ihre Umgebung in jeder Situation genau beobachtet, kleinste Nuancen im Verhalten der Menschen um sie herum bemerkt und ihnen dann gegeben, was sie an Erwartungen identifiziert hatte. Der auf Essstörungen spezialisierten Therapeutin gab sie die Essstörung. Und mir, der Cousine, eben einen direkten, etwas schnodderigen Humor. Sie hatte Witz und viel Zärtlichkeit für alle Tiere. Meinen Sohn hat sie ohne viel Federlesens auf einen Esel gesetzt. Und ich hoffe, dass sie in diesem Moment wirklich so fröhlich war, wie sie aussah. Sicher bin ich mir nicht. Denn der nächste Abgrund schien immer bereits zu warten.

Inzwischen ist sie seit mehreren Monaten tot. Alle waren schockiert, nun ist Ruhe eingekehrt. Und doch hätten wir uns wahrscheinlich gewünscht, sie wenigstens einmal richtig sehen zu können. Verstehen zu können. Sie halten zu können.

Denn die Sache mit den Chamäleons ist die: Auch wenn sie permanent die Farbe wechseln – ihre Form bleibt trotzdem gleich. Wir können sie bloß nicht sehen.