#maskeyeah – Von der Notwendigkeit, etwas Gutes auch zu feiern

Die Atemschutzmaske ist kein lästiges Übel. Sie ist geil! Wir sollten sie feiern.

Die Maske ist so einiges, in den Medien, auf der Straße, auf Google, und die Diskussion gefällt mir nicht. Nicht, weil es ein paar Idioten gibt, die den Begriff „Merkelmaulkorb“ ernsthaft benutzen, sondern wegen dieser Schieflage, in die wir alle geraten sind, eine Schieflage die Querschwurblern sehr entgegen kommt: Die Maske als lästiges, allenfalls notwendiges Übel, als solidarische Pflicht. In einer harten Welt ist es unumgänglich, sich einen unförmigen und das Atmen erschwerenden Stofflappen vor das Gesicht zu schnallen um das schreckliche Unglück der Corona-Erkrankung vielleicht ein wenig einzudämmen. So höre ich den Subtext von allen Dächern singen. Da steigt doch gerne mal der Selbstmitleidspegel.

Die Masken sind geil!

Ich finde das falsch. Die Masken sind geil! Angesichts einer weltweiten Pandemie, an die man nicht glauben muss, die man aber als erwiesen akzeptieren kann, sind die Masken doch das beste, was uns passieren konnte: Vor dem Impfstoff. Bei hoher Auslastung der Intensivstationen. Und ohne schon alles über das Virus zu wissen. Trotz allem, schon jetzt, können wir etwas ganz einfaches tun, um uns bzw. unsere Umgebung zu schützen. Ist das gut, oder ist das gut?

Damit reiht sich die Atemschutzmaske in eine Reihe sehr einfacher Praktiken ein, die längst akzeptiert sind und täglich Menschenleben retten: Kondome, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Hände waschen, Fahrradhelme, Impfungen (bitte keine Diskussion jetzt). Es gibt viele mehr. Alles nicht besonders sexy, vielleicht nehmen wir es auch mal nicht so genau damit – aber sind wir nicht froh, wenn wir dem so entstandenen Kind dann doch einen Fahrradhelm aufsetzen können?

Masken sind eine kulturelle Errungenschaft, und es wird ihnen nicht gerecht, sie permanent schlecht aussehen zu lassen. Im Gegenteil, es ist gefährlich – sickert so doch ganz langsam ein Verständnis für für die „Querdenker“ in die Gesellschaft ein. Das darf nicht passieren – es geht bei der Maske nicht mehr nur um ihren medizinischen Sinn, nämlich sie zu tragen. Vielmehr hat das Tragen jetzt auch noch eine gesellschaftliche Komponente: Wir sollten sie feiern! #maskeauf hieß es im Frühling, aber angesichts der vielen Coronaleugner sollte es meines Erachtens besser heißen: #maskeyeah

Randnotizen mit Huhn

Zwei Jahre ist es her, dass ich mich für längere Zeit in eine stationäre psychiatrische Behandlung begeben habe. In dieser Zeit sind einige Randnotizen entstanden, die ich lange nicht posten wollte. Ich wollte mich nicht über die Leute lustig machen, die mir geholfen hatten. Und ich wollte kein abwertendes Bild von Psychiatrie festigen… Allerdings: Es ist nunmal einfach so gewesen. Und ich konnte trotz Depression auch herzlich darüber lachen. Auch über das Huhn. Vor allem über das Huhn!

Genussgruppe. Es geht um Gerüche. Mir geht es schlecht. Ich fange an zu weinen und verlasse die Therapie. Versuche, mich im Bett auszuheulen. Mit verschränkten Armen und leicht verunsichert neben mir sitzend: Die Auszubildende aus dem Pflegeteam.
– Frau Hoffmann, soll ich gehen?
+ Weiß ich nicht. Nein.
Pause. Ich weine.
– Frau Hoffmann, ist alles in Ordnung?
+ Na offensichtlich nicht.
Pause. Ich weine weiter.
– Frau Hoffmann, darf ich Sie mal was fragen?
+ Weiß ich nicht. Meinetwegen.
– Wie hat denn das bei Ihnen eigentlich alles angefangen?

Schon wieder Genussgruppe.

Eine Woche später. Wieder Genussgruppe.
Es spricht die leitende Krankenpflegerin:
„Ja, guten Abend, willkommen zur Genussgruppe, Sie wissen, ja, hier bei uns in der Genussgruppe geht es immer um unsere Sinne, so wie zum Beispiel Schmecken oder Fühlen, nicht, und heute, da geht es also um den Sinn des Hörens, ja, da kann man nicht ganz so viel machen, aber Sie können da ja mal so ein bisschen gucken, dass Sie mal wieder darauf achten, zum Beispiel im Frühling, wenn wir im Wald spazieren gehen, und dann zwitschern da die Vögel, dann ist das ja angenehm, und im Herbst da gibt es ja dann doch viel weniger zu hören, bis auf den Schnee vielleicht, der fällt, und da gibt es ja dann auch die Winterdepression.“

Genussgruppe. Schon wieder. Der Tisch ist liebevoll gedeckt, das Thema sind die Farben. Alle reden durcheinander. Wir sprechen über die verschiedenen Jahreszeiten, dann werden Scherzartikel ausgegeben. Niemand fragt warum, alles wird durchprobiert. Der leitende Krankenpfleger versucht, die Runde zu strukturieren und jede_n zu Wort kommen zu lassen.
Patientin 1: Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll.
Patientin 2: Und dann hat der Zahnarzt meinen Bruder verklagt, aber da ist nicht Recht gesprochen worden, eigentlich hätte mein Bruder verlieren müssen, aber der ist damit durchgekommen…
Patientin 3: Guckt mal, was ich für einen lustigen Hut aufhabe!
Patientin 4, mit Pfeife, laut: Trrrrrrr!
Über der Szene: Seifenblasen.
Krankenpfleger: Jaja, Farben begleiten und durch unser ganzen Leben.

…und im Hintergrund lief ein Huhn durch die Szene.

Unsere Brache. Eine Liebeserklärung.

Ein bisschen verboten aber nicht zu gefährlich – mein Sohn und ich erforschen die Brachfläche im Leipziger Südosten.

Robinien haben weiche, federleichte Blätter und spitze, harte Dornen. Wenn ich unsere Brache vom S-Bahnhof Leipzig MDR aus betrete, hängt genau auf meiner Augenhöhe ein Beutel Hundekot in diesen Dornen. Seit die Blätter gewachsen sind, kann ich ihn nicht mehr sehen. Es ist April.

Die letzten Wochen haben wir oft hier verbracht – während Corona den Alltag lautlos vor die Wand fuhr, verbrachten mein Sohn, meine Mutter, mein Partner und ich den Frühling zwischen Glasscherben, Betonbrocken und Wildblumen. „Unsere Brache“ – das sind die lose durch Verkehrswege voneinander getrennten Brachflächen die sich vom Bayerischen Bahnhof bis fast nach Connewitz erstrecken. Ein ganz neues Stadtviertel soll hier entstehen, aber das, was dafür zerstört werden wird, das lässt sich nicht planen und nicht bauen.

Ein bisschen gefährlich, aber nicht zu verboten

Für ordentliche Menschen sieht der Ort natürlich siffig aus: Siffige Matratzen, ein siffiges altes Waschbecken und sehr viel kaputtes Zeug. Drauf darf man streng genommen auch nicht, aber die Zäune sind schon lange niedergetrampelt, das einzige Tor steht wochentags eh offen und wo kein Kläger ist – schon klar. Zugleich liefert diese „Zaun-Situation“ natürlich den winzigen Hauch Nervenkitzel, den Stadtkinder viel zu häufig gar nicht erleben können – etwas machen zu können, war ein bisschen verboten, aber nicht zu gefährlich ist. Die Pfützen sind hier größer, als in jedem Park, und mit Steinen darf man werfen, denn es ist genug Platz. Stundenlang haben wir Züge beobachtet (rote oder grüne Türen?). Die Kieshaufen auf der einzigen schon vorhandenen Baustelle umsortiert. Eidechsen beobachtet und Stöcke in tiefe Löcher geworfen. Abbruchhäuser erkundet und einen selbst gebauten Skaterpark entdeckt.

Als es Sommer wurde, begann mein Sohn, Glasflaschen zu zerschmettern. Stundenlang suchten wir Flaschen und dann einen Ort, an dem die Scherben niemanden beeinträchtigten. Und dann ging’s los: Ein bisschen asi, aber eine Sektflasche schafft mein Kind mit einem einzigen Wurf. Auf keinem Spielplatz der Welt könnte ich ihn das machen lassen.

Auch kulinarisch ist die Brache spannend: Zugewuchert mit Brombeeren, Kräutern, Blumen… Wir kochten Robinienblütensirup, ärgerten uns über den trockenen Sommer, der alle Brombeeren auf dem Gewissen hatte und fanden einmal sogar köstliche Rauke (Rucola). Mein Sohn weiß, was giftig ist und was lecker, und er weiß auch, dass man nicht in Hundehöhe pflückt. Die „siffige Brache“ war auch: ein naturpädagogischer Lernort.

Vor allem waren wir hier frei

Vor allem aber, und dafür liebe ich diesen Ort, waren wir hier frei, und mit uns viele andere Menschen. Der Vater, der mit seinem Sohn regelmäßig Einrad fahren übte. Die Jungs mit ihren Verstärkern und E-Gitarren, die stundenlang in der Sonne jammten und allen gute Laune machten. Die Unbekannten, die überall Vulven auf die Wege sprühten. Das Teenager-Pärchen, das sich in einen Autoreifen kauerte und gegenseitig wegen eines unbekannten Kummers tröstete. Und eben auch wir, die nach und nach jeden Winkel der Brache erforschten. Fast jeden.

Nun wird es Herbst, die letzten Blumen leuchten gelb, wir stöbern inzwischen nur noch am Wochenende. Irgendwann wird es losgehen, dann wird das gesamte Areal eine Baustelle, Wohnungen mit Parkplätzen werden entstehen und all die versteckten Scherben, Stöcke und Steine werden verschwinden. Und damit auch ein Stück Leipzig, dass mir sehr sehr lieb geworden ist. Denn das beste an Leipzig, das sind die Brachen.

Der Windbeutel

Ein trockenes Vollkornbrötchen will ich jetzt nicht essen. Die Nussschnecken sehen lecker aus, aber ich kann doch nicht immer und schon wieder Süßkram frühstücken. Vielleicht ein Rosinenbrötchen, gähn. Oh, was ist das? Riesige gefüllte Windbeutel stehen ordentlich aufgereiht in der Auslage, trotz all der Sahne sehr akkurat. Ich bin fasziniert. Wenig später suche ich mir mit Tee und Windbeutel einen schönen Platz in der Bäckerei und beobachte den draußen vorbeiziehenden Straßenverkehr. Koste den ersten Happen. Gut.

Hinter mir raschelt es. Eine ältere Dame, ebenfalls bewindbeutelt, rückt den Stuhl neben mir zurecht. Ob sie sich zu mir setzen dürfe, sie säße jeden Morgen an diesem Platz und äße zwei Windbeutel, nur heute habe sie nur einen bestellt, weil sie schon soviel Stollen gegessen habe, und man wolle ja nicht fett werden. Sie pustet die Backen auf, als sie das sagt, und natürlich antworte ich, dass sie sich gerne setzen könne und natürlich frage ich mich, ob ich lieber hätte nein sagen wollen.

So sitzen wir nun da, vor unserem Gebäck, draußen hat die Linie 74 grün bekommen, und sie erzählt, vor 19 Jahren sei ihr Mann gestorben. Sie hätte danach durchaus Möglichkeiten gehabt, drei Anwärter habe es gegeben, aber dann hätte sie ja einkaufen, kochen, putzen müssen und wir seien ja nicht bekloppt. Grinst sie mich an.

Dann erzählt sie mir von ihrer Kindheit in Böhmen, wie sie für ihre ganze Familie Pilze gepflückt habe, wie schön es vor dem Krieg gewesen sei. Wie sie dann in ein Lager habe gehen müssen, über 4000 Frauen und Mädchen seien dort gewesen. Wie die Sekretärin der Lagerleitung sie angewiesen habe, in das Zimmer am Ende des Ganges zu gehen. Wie überrascht sie gewesen war, dass dort weder ein Tisch noch ein Stuhl stand, nur eine Matratze ohne Laken auf dem Boden. Wie der Mann gekommen war, sie auf die Matratze gedrückt habe – ich dachte, der rammelt mich tot. Wie sie zurück in den Schlafraum gegangen sei, mit zerrissenen Kleidern, und ihrer Schwester nicht erzählen durfte, was passiert war. All das erzählt sie mir. Sie ist 91 Jahre alt, sie weint, sie klappt ihren Windbeutel auf, sie isst. Mein Herz tut ganz weh.

Ich will ihr etwas schenken, etwas Gutes, etwas was ihr zeigt, dass ich mich habe berühren lassen, denn was sonst könnte ich ihr geben? Hektisch blättere ich durch mein Notizbuch, finde ein Blumenbild aus einer Zeitschrift, schenke es ihr. Sie freut sich so sehr, viel zu sehr. Wir verabschieden uns herzlich, ich gehe, mein Herz tut immernoch weh, ihres mit Sicherheit auch. Und doch ist da etwas froh in mir und dankbar.

Genau so ein Mensch will ich sein, der für das Erzählen einer solchen Geschichte dankbar ist.

2018 gelesen

Schon seit einigen Jahren schreibe ich jedes Jahr auf, was ich so lese – und tausche mich um den Jahreswechsel herum mit einigen Freunden auf Facebook darüber aus.
Aber wenn ich mir nun erstmals auch die Mühe mache, alles abzutippen, dann kann ich die Liste ja auch gleich auf’s Blog stellen, oder?

Juli Zeh: Unter Leuten

Tove Jansson: Mumin ist verliebt

Heidi Benneckenstein: Ein deutsches Mädchen. Mein Leben in einer Neonazi-Familie.

J.K. Rowling, John Tiffany, Jack Thorne: Harry Potter und das verwunschene Kind.

Françoise Heritier: Das ist das Leben!

Miriam und Ezra Elia: Das Tagebuch von Edward dem Hamster 1990-1990

Sandra Konrad: Das beherrschte Geschlecht

Sandra Konrad: Liebe machen

Haruki Murakami: Worüber ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Paulo Coelho: Sei wie ein Fluss, der still die Nacht durchströmt

Jane Austen: Stolz und Vorurteil

Michael Ende: Die unendliche Geschichte

Marc-Uwe Kling: Quality Land

Nicht enthalten sind gefühlte 8349260 oftmals hervorragende Bilderbücher, die ich vorgelesen habe. Ein paar davon habe ich hier schonmal vorgestellt. Denn Bücher zu feiern schließt für mich Kinderbücher mit ein!

Ganz ganz ganz besonders empfehlen möchte ich aus der obigen Liste den Band von Haruki Murakami. Und das Hamster-Tagebuch. Auch „Qualitiy Land“ war nicht schlecht. Und „Das beherrschte Geschlecht“ höchst interessant. Jane Austen ist eh immer hervorragend.

Genervt hat eigentlich bloß Paul Coelho…

…und dass ich nicht mehr Zeit zum Lesen hatte. Nicht mehr gedanklichen Raum für Anspruchsvolles. Ich hoffe, dass da 2019 ein bisschen mehr Freiheit und Freizeit für Muße bleibt!

Was habt ihr gelesen? Und habt ihr Tipps für mich?

Genug ist genug

Meine Turnschuhe haben Löcher.
Ich sitze auf meinem Krankenhausbett und betrachte sie minutenlang. Draußen scheint die Herbstsonne. Drinnen riecht es nach matschigen Kartoffeln und Desinfektionsmittel. Mein Mund ist trocken von den Tabletten, die ich einnehmen muss. Mein Kontostand beträgt 2,18 €. Ich werde mir so bald keine neuen Turnschuhe kaufen.

Genug ist genug, das denke ich mir in letzter Zeit öfter. Und das bedeutet:

Ich habe genug davon, arm zu sein, denn das bin ich, seit ich Mutter bin. Das Geld, dass ich verdiene, reicht nicht, um mich (nur mich) zu ernähren. Genug habe ich auch davon, was dieser Zustand mit meiner Familie macht – denn nein, wir gehören nicht zu den Menschen, die gut damit umgehen. Die Angst vor dem Mangel schafft Stress und Streit, und beides ertrage ich gerade nicht mehr.

Genug habe ich auch davon, dennoch viel zu arbeiten, keine Freizeit zu haben. Keine Zeit für mich. Tatsächlich habe ich meine Arbeit oft als „me-time“ empfunden – hier bekam ich die Chance, meine Ideen umzusetzen, konnte mich als kompetent und wirksam erleben und dafür auch Anerkennung von den Kollegen ernten. Das war schön. Aber inzwischen habe ich gelernt: Allein aus der Arbeit kann und will ich das nicht ziehen. Das ist dann eben doch nicht genug.

kein sicherheitsnetz

Genug habe ich auch davon, was es bedeutet freibruflich krank zu werden. Seit drei Monaten bin ich inzwischen arbeitsunfähig krank. In dieser Zeit habe ich mehrere tausend Euro an Honoraren verloren (obwohl meine Kolleg_innen und Auftraggeber_innen wahnsinnig fair sind – danke!). Praktisch wöchentlich erreichen mich dafür Nachrichten per Mail oder Telefon – Nachrichten, die ich weiterleiten oder kurz bearbeiten sollte. Mein Krankengeld ist eher symbolisch.

Seit Ende der Elternzeit bin ich in Vorleistung gegangen, habe Projekte entwickelt und Anträge geschrieben. Ich bin nicht schlecht in meinem Job, insgesamt sind grob überschlagen 230.000 € für verschiedene Projekte bewilligt worden. Ein kleiner Teil davon wäre normalerweise in Form von Honoraren an mich ausgezahlt worden. Allerdings habe ich die Phase der Proben und Aufführungen, die vergütet wird, größtenteils krankheitsbedingt verpasst. Sich anzustrengen lohnt sich leider nur, wenn genügend Kraft bleibt, um die Resultate zu genießen. In meinem Fall ist dieser Plan nicht aufgegangen, und ein Sicherheitsnetz ist nicht vorhanden.

Ich habe genug! Auch davon, krank zu sein. Seit vielen Jahren lebe ich mit wiederkehrenden depressiven Episoden. Und die meiste Zeit leben wir ganz gut zusammen, die Depression und ich: Sie gehört zu mir, sie hat mein Leben besser gemacht, sie macht es mir wahnsinnig schwer, sie definiert mich nicht, von Zeit zu Zeit kommt sie vorbei und erinnert mich daran, wie ich leben will.

was existenzängste bedeuten

Wenn mein Leben mich allerdings so erschöpft, dass mein Körper keinen Weg mehr hinaus findet und ich ins Krankenhaus muss, dann gibt es ein Problem. Denn die kulturpolitischen Konflikte, von denen Bündnisse wie Leipzig+Kultur oder auch der Bundesverband der freien Darstellende Künste sprechen, übersetzen sich in persönliche Geschichten: Von Armut, von Existenzängsten, von Kindern, die man lieber doch nicht bekommt, Partnerschaften, die auf der Strecke bleiben, Turnschuhen mit Löchern, die in Krankenhäusern getragen werden, die aufgrund einer riesigen Erschöpfung aufgesucht werden.

Genug ist genug – mir reicht es jetzt. Stellenangebote gerne mit mir teilen. Ich hab was drauf – muss mich nur noch ein bisschen ausruhen…

Randnotizen V

Wenig schreibe ich zur Zeit – aber ein paar Notizen aus meinem Alltag haben sich doch mal wieder angesammelt. Dieses Mal mit zu leckerem Kuchen, einem sprechenden Baby und dem Wunsch ein Reh zu sein. Meine Pinnwand kann ich nicht fotografieren, denn ich bin nicht zu Hause. Aber vielleicht helfen ja Abitur und Yoga gegen meine fotografische Phantasielosigkeit?

Vorm Bäcker, wartend. Zwei hippe junge Frauen trinken Smoothies. „Also meine Mutter hat mir neulich ein ganzes Blech Kuchen gebacken. Ein ganzes Blech! Wie viele Kalorien das hat!“ – „Und meine Mutter so: Nein, da ist gar nichts drin, in dem Erdbeerkuchen… Aber da waren Eier drin, Milch, Butter, alles…“ Ihre Mütter machen alles falsch mit den Kuchen. Ich denke, dass ich das hätte sein können, vor einigen Jahren, die sich so über den falschen Kuchen und die Mutter beklagt. Und dass ich, seit ich Mutter bin, alles genauso falsch machen will.

Informationen für kinder

Kinderstadt. Zwei Jungs rennen zum Helferzelt, wichtige Frage: „Gibt es schon eine Polizei?“ – „Nein, noch nicht.“ – „Ah, gut!“ Sie laufen davon.

Freibad. Ich stille meinen Sohn. Kinder fragen, was wir da machen, Eltern antworten, dass er noch ein kleines Baby sei, das gestillt werden müsse. Mein Sohn ist zweieinhalb. Was in so einer Situation nicht hilft: Wenn das kleine Baby kurz absetzt, verkündet, die Brust sei heiß und dann weitertrinkt.

Die Härten des Lebens

Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs. Am Straßenrand stehen ein älterer Mann und eine sehr alte Frau. Diese schreit fürchterlich herum, sie wolle nach Hause… Der alte Mann fasst sie am Arm und brüllt sie an: Du kannst nicht nach Hause, du bist zu bekloppt dafür, du muss ins Heim!“ – Dann bin ich schon wieder weg. Aber ich muss noch lange über diese brutale Ehrlichkeit nachdenken.

„Ach wäre ich doch ein Reh, dann könnte ich diese lecker aussehenden zarten grünen Spitzen an den Fichten abknabbern…“, denke ich. Jeden Frühling. Liebe Biolog_innen, fressen Rehe Fichtentriebe? Und liebe Psycholog_innen, gibt es eine Diagnose für den Wunsch, ein Reh zu sein? Semi-normale Grüße, eure Solveig

Grünau wünscht…

Seit zwei Wochen bin ich als Amtsleiterin des Amtes für Wunscherfüllung und Vielleicht-Management im Auftrag des Haus Steinstraße e.V. in Leipzig-Grünau unterwegs und befrage die Menschen zu ihren Wünschen. Vieles gäbe es zum Konzept zu erzählen, doch vorerst zähle ich einfach Mal auf, was ich gehört habe – Menschen in Grünau wünschen sich:

Dass es in Grünau mehr als eine Bibliothek gibt. Eine kleine Schwester. Abkühlung. Dass die Sparkassenfiliale wieder eröffnet. Dass die Baumstämme aus dem Robert-Koch-Park abtransportiert werden. Wieder Kontakt zu den (erwachsenen) Kindern zu haben. Ein schönes Café, in dem man auch Mal essen gehen kann und wo nicht nur das Gesindel hingeht. Einen Ferienpass. Urlaub. Dass die Krankenkasse die Podologie bezahlt, wenn der Arzt sie verordnet. Bessere Barierrefreiheit im öffentlichen Nahverkehr. Saubere Spielplätze ohne Kippen und Scherben. Mehr Hilfen für Alleinerziehende, auch wenn die Kinder schon etwas größer sind. Beratung in Liebesdingen mit dem Ziel der Eheschließung. Dass man als Mensch mit Behinderung ernst genommen und respektiert wird. Dass der Rest von Leipzig nicht auf Grünau herabschaut. Mehr Polizeipräsenz. Dass man erfährt, was ein Amt in Bezug auf den eigenen Wunsch tut, wenn man dort anruft und sein Problem schildert. Eine Muschel mit einer Perle darin zu finden. Dass die Lieferfahrzeuge zum netto-Supermarkt die eigens gebaute Zufahrt nutzen anstatt durch die Dahlienstraße zu fahren. Ein Sternburg. Mehr Parkbänke. Dass die ostdeutsche Sprache nicht ausstirbt. Dass die Mittags-und die Nachtruhe eingehalten werden. Gesundheit. Einen Laden, in dem die Kunden veranlassen können, dass jemand etwas für sie im Internet bestellt. Dass weniger Bäume gefällt werden. Eine Ballonfahrt. Dass Dyskalkulie der Lese-Rechtschreibschwäche gleichgestellt wird. Eine_n deutsch-kurdisch-Übersetzer_in. Dass das Kindergeld erhöht wird. Dass es eine Nacht lang einen rechtsfreien Raum gibt, so dass man Ausländer erschießen kann. Längere Öffnungszeiten im Stadtteilladen. Dass die schadhafte Stelle an der Treppe ausgebessert wird. Hilfe bei der Wohnungssuche. Weltfrieden. Ein Kind.

Randnotizen deluxe

Also normalerweise schreibe ich hier ja immer auf, wir hart prekär ich bin. Schon klar: mit Arbeit, Wohnung, Essen, Trinken und Café-Besuch. Aber eben vergleichsweise schlecht bezahlt und vor allem abgesichert. Seit ich Mutter bin, ist dieses Thema recht dominant geworden. Immer das Geld… Es nervt. Obwohl so vieles gut ist.

Nun allerdings hatte ich für wenige Tage die Gelegenheit, in ein anderes Leben zu schnuppern: Ich war mit Mann und Kind in einem 5 Sterne-Hotel zu Besuch. Wie und warum ist hier egal, aber was ich für mich notiert habe – eben als Randnotiz – das tut nach all den Sorgen um Existenz und Zukunft echt ganz gut.

1. „Sehr viel Geld haben“ ist eine Marke. Man stellt sich das so vor: Den Club der Superreichen. Den Dresscode. Die Schneckengabel. Und dann steht man da eher so casual und stellt fest, dass man doch wieder ganz geborgen in einer asiatischen Reisegruppe verschwinden kann.

2. Geld haben will dennoch gelernt sein. Mir fehlt definitiv die finanzielle Biographie, um beim Bestellen, Trinkgeld, beim Parkplatzwächter selbstbewusst zu performen.

3. Sehr viel Geld kann auch zu absurden Vergnügungen führen. So badete ich tatsächlich in einem Pool, in dem Gerbera schwammen. Das war lustig und ein wenig lächerlich und für Rosen wäre ich empfänglicher gewesen. Aber am Ende des Tages ist vieles dann eben doch eine Soap Opera ohne billigen Vorspann.

4. Luxus allerdings ist herrlich. Wir haben ihn so genossen!

5. Was Luxus ist? Hier waren es „Raum“ und „Sorgfalt“. Alle haben genug Platz. Für alle ist genug da. Der Frühstücksguglhupf mag keine Haute Cuisine sein, aber er ist sorgfältig hergestellt, auf den Punkt gebacken. Jemand hat die Zeit investiert, diesen Gugelhupf (und vieles mehr) perfekt vorzubereiten. Insofern ist Luxus auch „Zeit“.

6. Wenn ich also die Hälfte meines Krams aussortieren und die Hälfte meiner Zeit in Ordnung, Sauberkeit und gutes Essen investieren würde, hätte ich den wesentlichen Luxus in meinen Alltag integriert. Leider stört mich dabei meine Arbeit.

7. Luxus bleibt Menschen verwehrt, die sich keine Zeit von anderen Menschen kaufen können. Fazit: Wir müssen Zeit klauen!

Randnotizen IV

Ein langes Wochenende ist rum – mal wieder Zeit für ein paar Notizen aus meinem Alltag. Dieses Mal mit vielen Arztgesprächen, obwohl ich gar nicht krank war, einem philosophischem Gespräch in kindlichen Begriffen und meditativen Aufenthalten an einer Baustelle. Das Beitragsbild zeigt einmal mehr meine Pinnwand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Den Gutschein kann ich vermutlich nicht mehr einlösen, oder?

Ich bin mit dem Sohn auf dem Spielplatz. Er spricht neuerdings sehr viel. Gerade hat es eine vertrocknete Pflanze entdeckt und zerrt daran.
– Mama, Mama!
+ Das ist eine Pflanze. Die ist tot.
– Fanze. Fanze dit. Dit!
Es ist das erste Mal, dass ich höre, dass mein Kind das Wort „tot“ ausspricht. Ich merke, wie er prüft, was das neue Wort bedeuten könnte. Wieviele philosophische Denkschulen habe ich mit meinen sieben Wörtern jetzt umgesetzt oder nicht umgesetzt?

Arztgespräche

Arztgespräch I: Mit meinem Sohn unterwegs: Der Gehweg ist ein Stehweg. Er fummelt also an einem Zaun rum, ich warte mütterlich-geduldig-resigniert-die Sonne genießend. Eine junge Frau kommt mir entgegen, schiebt ihr Rad mit Kindersitz, lebhaft telefonierend. Sie kommt mir bekannt vor. „Klar, ich mach das gerne! Operieren, das kann ja jeder Handwerker…“ Klar, das ist meine Orthopädin!

Arztgespräch II: Ich werde noch eine Weile vor diesem Zaun stehen, und deshalb schweife ich ab, zu einem anderen Arztgespräch – schwanger (noch geheim) stand ich am Burgermeister und zog mir Pommes rein (nur das ging). Am Nebenstehtisch wieder eine lebhafte junge Frau, offenbar vom Klinikum Borna (bekannt für einen sehr bedürfnisorientierten Stil im Kreißsaal): Wassergeburt sei doch eklig, da sträube sich ja schon alles in ihr dagegen, ein Kind in dieses verkeimte Wasser zu kriegen. Sie stünde den ganzen Tag im OP, ja, Kaiserschnitte. Ja, unter der Haut sei so eine weiße Schicht, die man dann so mit den Fingern auseinander zöge, aber schneiden müsse man natürlich trotzdem. Und so weiter. Ach, denke ich, wäre es nicht schön, wenn ich nicht wüsste, wie über das, was mir möglicherweise bevorsteht gesprochen wird?

Achtsames baggern

Um eine Straße vom Asphalt zu befreien, muss man mit einem Bagger zuerst behutsam die Versiegelung aufknacken, was sehr genaue und sensible Bewegungen des Steuerknüppels erfordert. Anschließend schiebt man die Kante der Schaufel des Fahrzeugs sorgfältig unter die Asphaltschicht und hebt diese leicht an, so dass sie sich hochwölbt und im Idealfall auf einer Länge von 1-2 Metern abbricht. Die so entstehende Platte lässt sich nun mit viel Geschick nochmal zusammen falten, so dass sie in der Mitte bricht. Solchermaßen „handlich“ geformte Stücke können nun leicht abtransportiert werden.

Um sich dieses Wissen anzueigenen, muss eine Theaterwissenschaftlerin lediglich Mutter werden.

Edit: In einer früheren Version dieses Textes war von einem Radlader die Rede. Inzwischen (und nach mehreren Monaten intensiver Bautätigkeit auf der Karl-Liebknecht-Straße) kenne ich den Unterschied zwischen Radladern und Baggern. Natürlich habe ich den Sachfehler im obigen Text daraufhin sofort (nach ca. 2 Monaten) behoben. Man muss natürlich einen Bagger benützen!