mein tief.unten

Wie sich eine Depression anfühlt, das ist schwer zu verstehen, sagt man. Ich weiß es auch nicht. Ich kann nur erzählen, von meinem Blick auf meine Depression. Und weil ich Lust hatte etwas auszuprobieren, ist ein kleines Zine entstanden. Thema: Lächeln und Nicken.

Es ist Sommer, die Tage hopsen vorbei. Ich hatte mir mal erzählt, dass die EU-Rente eigentlich auch ein bisschen wie ein künstlerisches Stipendium sei, dass ich nie wieder so viel Zeit für meine Ideen haben würde. Das ist möglich. Aber trotz aller Liebe zur Kreativität gibt es auch Freund_innen, Netflix, den See… und wahnsinnig viele Cafes, die ich mir eigentlich nicht leisten kann. Währenddessen stauen sich die angefangenen Textdateien auf meinem Desktop, der Nobelpreis für Literatur wird noch warten müssen. Es ist kompliziert.

Kompliziert scheint auch ein anderes Thema zu sein, das mich mein Leben lang begleiten wird: Depression. Wenngleich das Internet voll von gut recherchierten und aufbereiteten Informationen ist – zum Beispiel hier – stoßen Betroffene und Angehörige nach meiner Erfahrung immer wieder auf zwei Probleme:

  1. fehlt in der Regel eine Anlaufstelle, die alle Baustellen dieser Erkrankung – medizinische, psychische, soziale, arbeitsrechtliche und finanzielle etc. – im Blick hat und an entsprechende Stellen ganz konkret im jeweiligen Ort verweist. Diese Informationen müssen sich viele mühsam selbst erarbeiten, im besten Falle können andere Patient_innen helfen – wenn man denn mit anderen ins Gespräch kommt. Dieses Problem ist riesengroß, und ich überlege oft, wer das lösen könnte.
  2. höre ich immer wieder den Klassiker: „Wie man sich da fühlt, das kann man sich vermutlich einfach nicht vorstellen…“

Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, ob es erstrebenswert ist, sich das vorzustellen. Aber die Empathie zu verstehen, dass es schlimm ist, die brauchen Betroffene ganz bestimmt. Und ich finde es umgekehrt auch total gut es zu versuchen, zu versuchen zu beschreiben, was in einem vorgeht.

Depressionen sind eine Krankheit, die über die Persönlichkeit der Erkrankten wahrgenommen wird.

Depressionen sind eine Krankheit mit spezifischen Symptomen, und diese bahnen sich ihren Weg durch ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Ärzt_innen und Therapeut_innen können über Depressionen sprechen, ich kann nur über meine Depression sprechen. Mein tief.unten.

Durch die tolle Lyrikerin Sirka Elspaß habe ich für all diese Gedanken eine Form gefunden: Ein Zine soll es sein. Ich habe meine Dateien zusammenkopiert, verschoben, neu gemacht, Fotos hinzugefügt, den Scanner repariert… Und ein erstes Thema gefunden. Lächeln und nicken. Das ist das, was ich mache, in den Wochen, bevor es kracht. Ich tue, was alle gerne sehen, ich denke, ich schaffe alles weil ich muss, ich lächle und denke „ihr Arschlöcher“, und dann ist es bald vorbei. Beziehungsweise dann geht es erst richtig los.

Ein kleines Zine ist es geworden, die Einzüge stimmen nicht, hier und da wurde was abgeschnitten, aber ich freue mich. Es ist seit Jahren das erste, klitzekleine Projekt, das ich nicht nur angefangen, sondern auch beendet habe. Ich werde es hier verschenken, da verteilen, wenn ihr eins haben wollt, müsst ihr euch mit mir treffen. Ich freu mich jetzt einfach, dass ich das gemacht habe. Und nun: Zeit für Netflix. Oder so.

Von einer leeren Tasse – Wahrheiten über Bewerbungen

Neulich traf ich einen Bekannten, wir sprachen über dies und das und schließlich über Bewerbungsgespräche. Und dass diese nicht halb so schlimm sind, wie uns immer erzählt wurde. Hier einige Erfahrungen von einer Frau, die fast nie eine Bluse bügelt und trotzdem Jobs und Aufträge bekommt.

Wir schreiben das Jahr 2017, es ist Frühsommer, mein Sohn gerade ein Jahr alt. Die Elternzeit endet, Geld will verdient werden, ich suche nach Jobs und Aufträgen. Jetzt gerade allerdings ist irgendwas mit Flüssigkeiten passiert (ich weiß nicht mehr so genau), der Sohn türmt in seiner Windel, ich in Hose und BH hinterher, halt, das Handy klingelt, unbekannte Nummer, ich gehe ran und weiter ins Badezimmer. Ja, guten Tag, meldet sich eine Frauenstimme, es geht um einen Job als Texterin und Ihre Bewerbung. Die Frau fragt, ich antworte, der Sohn wirft Gegenstände in die Badewanne, es scheppert ganz schön, ich erkläre, die Frau lacht. Keine Ahnung, worüber wir noch gesprochen haben, am Ende habe ich den Job und schreibe von nun an Website-Texte für Zahnarztpraxen. Und angezogen habe ich uns dann auch wieder.

Das war sicherlich mein chaotischstes Bewerbungsgespräch, nicht aber mein unprofessionellstes: Einmal hatte ich mir die falsche Zeit aufgeschrieben und kam deftig zu spät. Ein anderes Mal hatte ich noch Erfrierungen an den Händen, weil ich diese während einer Hand Mund Fuß-Erkrankung zu stark gekühlt hatte. Das war insofern authentisch, als ich auch im Job keine Maschine bin: Teamrunde und gleichzeitig das erkältete Baby stillen/bespielen/was auch immer. Von (volljährigen!) Jugendlichen eine Zigarette annehmen. Mit denselben Jugendlichen in Venedig Klingelmäuschen spielen. Und vielleicht war das sogar meine Idee.

Offensichtlich bin ich eine ganz schreckliche Person, wenn es ans Arbeiten geht.

Wenn ich das alles hier so zusammenfasse, bin ich offensichtlich eine ganz schreckliche Person, wenn es ans Arbeiten geht. Nach der Logik meiner Deutschlehrerin hätte ich nie einen Job finden dürfen. Die hatte mir nämlich erklärt, wie das geht mit dem Bewerben. Also, dem ganzen Deutsch-LK, damals 1999 am Konrad-Duden-Gymnasium in Wesel, Nordrheinwestfalen.

1999, das war die Zeit der Arbeitslosigkeit, die Zeit von Gerhard Schröder und den Horrorstories, die später die Agenda 2010 rechtfertigen sollten. Bewerbungsprozesse wurden gemeinhin wie eine Art „Kreuzweg“ geschildert, nicht selten las man von Menschen, die hunderte Anschreiben und Lebensläufe verschickten. Berichte dieser Art wiederum lasen dann mutmaßlich unsere Lehrer_innen – selbst verbeamtet und auf geradem Weg in die sichere Rente. Die Menschen, die uns auf die harte Arbeitswelt vorbereiten sollten, hatten diesbezüglich keinerlei persönliche Erfahrungen. Trotzdem gaben sie sich Mühe, und so spielten wir bei der besagten Deutschlehrerin Bewerbungsgespräche.

Guten Morgen, guten Morgen, möchten Sie einen Kaffee?, ja, *Kaffeehinstell. Sie möchten also XY werden, warum denn, ja, weil, blabla…, was sind denn Ihre Stärken? und Ihre Schwächen? Schwächen, die in Wirklichkeit Stärken sind sagen!, gut, wir melden uns, tschüs, tschüs, fertig. Jetzt Auswertung.

Eine Mitschülerin: Du wolltest Kaffee, hast dann aber gar keinen Kaffee getrunken. Spielerin: Weil in der Tasse gar nichts drin war.                                                        Lehrerin: Das könnte euch durchaus passieren, dass da nichts drin ist, dass das ein Test ist, um zu gucken, wie ihr da reagiert!

Was haben die uns für einen Stress gemacht!

Und genau das ist der Moment, auf den ich zurückblicke und dann denke: Was haben die uns für einen Stress gemacht! Und wie kontraproduktiv das war! Ich jedenfalls ging ziemlich schüchtern und verunsichert an Uni und Praktikumsplätze und musste mir das Wissen, dass eine Bewerbung kein Drama ist erst mühsam aneignen. Und deshalb schreibe ich nun das auf, was ich damals besser hätte hören sollen: 

  • Mach beruflich etwas, was du gerne tust und worin du gut bist. Punkt. Alles andere findet sich.
  • Bewirb dich für alles, was du interessant findest und zeige dein Interesse. Ein Quereinstieg kann eine feine Sache sein.
  • Bau dir unbedingt ein Netzwerk auf, die meisten Jobs (bzw. Gespräche) kriegt man eh über Beziehungen, und das ist auch richtig so: Wenn jemand schon ein Jahr zufrieden mit mir gearbeitet hat, sagt das weitaus mehr über mich aus als ein Gespräch.
  • Sei verbindlich, denn am Ende spricht man immer mit Menschen.
  • Und überleg dir selbst, was du möchtest: Nur weil jemand dich einstellen will, musst du das nicht auch wollen.
  • Darüberhinaus solltest du unbedingt immer wieder mit Kolleg_innen über Geld reden, sonst weißt du nie, was du nehmen kannst.

Und damit bin ich eigentlich immer ganz gut gefahren.

Und damit bin ich eigentlich immer ganz gut gefahren. Sicher mag es Branchen geben, in denen es ganz anders läuft. Doch auch mein Bekannter (Verpackungsingenieur oder sowas?) hatte noch kein Bewerbungsgespräch, das nicht abends beim Bier geführt wurde. Andere Menschen aus meinem Umfeld saßen plötzlich vor einer 15-köpfigen Komission (die abgefahrensten Sachen passieren immer in den Kommunen). Ich hatte auch mal den absoluten Hass-Job (Callcenter), der so furchtbar war, dass keiner dort arbeiten wollte und jede_r, absolut jede_r mitmachen durfte. Es gibt ganz verschiedene Wege. Aber niemand, wirklich niemand, stellt dir eine leere Tasse hin. Und wenn doch, dann frag, wo dein Kaffee bleibt.

Was sind eure Bewerbungserfahrungen? Bitte sagt mir, dass ich nicht die einzige bin, die es nicht schafft, sich eine Bluse zu bügeln! Und wie wurdet ihr in der Schule darauf vorbereitet? Ich bin gespannt auf eure Berichte.

Corona: Die Lösung, bitteschön.

Die Impfquote lässt zu wünschen übrig. Vulnerable Gruppen bezahlen dafür mit ihrer Bewegungsfreiheit. Die Debatte wird dabei eher als Geschrei geführt, gerade in der, ich sag mal ganz vorsichtig, nationalsozialistischen Szene. Auch esoterisch angehauchte Bürgerrechtler_innen haben Probleme. Dabei ist sie ganz einfach: Die Lösung. Macht die Impfung teuer! Dann wird`s schon werden.

Ich hatte mir ja die Impfpflicht gewünscht. Das war natürlich naiv: Wer die beschließt, muss sie auch durchsetzen, das finden viele Wähler_innen NICHT WITZIG, und damit ist die Sache gelaufen, der Drops gelutscht, die Impfpflicht abgelehnt. Möglicherweise hätten Merkel und Spahn die Chance gehabt, die Sache gleich mit den ersten Impfstoffen durchzuziehen, haben sie aber nicht, und nun haben sich die gesellschaftlichen Kräfte formiert. Zwischen Globulis und Hitlergruß ist die sachliche Debatte als erstes hops gegangen, und es tat weh zu sehen, wie Politiker_innen wie die Leipzigerin Dr. Paula Piechotta wirklich noch versuchten, einen auf Fakten basierenden Kompromiss auszuhandeln. Klappte natürlich nicht, und nun feiert: das Virus. Damit haben wir den Salat.

Der worst case, in Deutschland auch Eigenverantwortung genannt, ist eingetreten.

Der worst case, in Deutschland auch Eigenverantwortung genannt, ist eingetreten: „Eigen“ heißt „was mir passt“, und ja, das ist doch fein, ich übernehme gerne die Verantwortung für „was mir passt“. Im Supermarkt tragen manche Maske, manche nicht. Bei der Kassiererin baumelt sie unter der Nase, beim Kollegen ist es eine medizinische Maske. Beim Arzt muss es FFP2 sein, beim Therapeuten 1 auch, bei Therapeutin 2 geht’s ohne. Und im Bus kontrolliert eh keiner. Natürlich gibt es auch jetzt noch Regeln – aber die Einzelhandelskauffrau im Netto kann diese Regeln nicht durchsetzen, sie hat andere Aufgaben, agressive Impfgegner_innen/zahlende Kund_innen rauszuschmeißen gehört nicht dazu, auch wenn sie am Eingang ein Schild aufgehängt hat, man möge die Maske tragen. Wenn der Staat eine höhere Impfquote und die Umsetzung der Maskenpflicht will, dann muss er auch dafür einstehen, das kann er nicht auf das Personal der Supermärkte abwälzen.

Wenn die Maskenpflicht flächendeckend von Karl Lauterbach, oder meinetwegen auch von seinen Kolleg_innen auf Länderebene ausgesetzt worden wäre, dann würde man sie auch leichter wieder einführen können. Ähnlich übrigens wie Schnelltests, Impfungen und Quarantänebeschränkungen. So unübersichtlich, wie die Lage jetzt ist, glaube ich nicht, dass wir ohne dramatische Entwicklungen zu unserer Disziplin zurückfinden. Das geht zulasten der gesundheitlich Schwachen. Dass es gar nicht um Eigenverantwortung geht, sondern vielmehr um Solidarität, das sind Worte einer Spaßbremse. Also z.B. von mir.

Eine Gelegenheit für Impfgegner_innen, sich gesichtswahrend impfen zu lassen.

Was also ist die Lösung? Sie liegt natürlich auf der Hand: Man muss die Maßnahmen besser verkaufen. Vor allem die Impfung. Zunächst einmal sollte man mit einer einschlägig akzeptierten Firma zusammenarbeiten, vielleicht mit Wala, oder mit den Leuten, die diese Kügelchen herstellen. Die sollten dann einen neuen Impfstoff entwickeln, also eigentlich den alten, aber bio und vegan und komplett in Deutschland produziert. Das ist dann die Alternative zu Biontech und Co, und die kostet dann natürlich auch. Das ist die Gelegenheit für Impfgegner_innen, sich gesichtswahrend impfen zu lassen: Dieser Impfstoff ist immerhin pflanzlich, insofern ist das schon ein Kompromiss, auch wenn es 800€ für die Familie gekostet hat, war ein Angebot, und immerhin besser als diese Schulmedizin! Gut für die Impfquote, gut für die Menschen. Ich sag’s ja nur. Das ist die Lösung. Gern geschehen.

Von Sex und Belästigung und behinderten Menschen

Ein Artikel über sexuelle Belästigung durch behinderte Menschen erinnert mich an ganz unterschiedliche Erlebnisse. Reden wir über Sex, Belästigung und behinderte Menschen!

Russland, Corona und Klimakrise, die Nachrichten türmen sich zur Zeit auf – und trotzdem fand ich letzte Woche auf tagesschau.de diesen Artikel, der mich sofort brennend interessierte. Belästigungen von Pflegekräften durch behinderte Patienten seien kein Einzelfall, würden aber unter dem Deckel gehalten, stand da, und plötzlich fiel mit das Kaffeetrinken des Pastors wieder ein. Das war in den 90ern, ich war 16 oder 17.

Damals war Inklusion noch kein Wort, mit Rechten behinderter Menschen hatte ich mich nie befasst, von geistigen Behinderungen erst recht keine Ahnung. Aber ich war fast erwachsen, der Pastor wohnte in der Nachbarschaft und er brauchte dringend Leute: Einmal im Monat holten Freiwillige die Menschen aus dem Heim für geistig behinderte Menschen ab und unternahmen was (Kaffeetrinken eben), und je weniger Betreuer_innen, desto weniger Teilnehmer_innen, das war klar. Zusammen mit einer Freundin willigte ich also ein, man sagte kurz vorher, dass wir bei den Männern wenn nötig einfach sagen sollten, wir hätten einen Freund – und los ging’s.

Ich war natürlich völlig naiv.

Ich war natürlich völlig naiv. Als ich beim ersten Termin noch länger mit einem der jungen Männer auf seinen Bus warten wusste, wurde ich nicht nur gefragt, ob ich einen Freund hätte, sondern regelrecht bestürmt, diesen zu verlassen. Heute würde ich lachen und eine deutliche Grenze ziehen, damals fühlte ich mich einfach nur massiv unter Druck. Beim nächsten Termin griff mir derselbe Mann mit beiden Händen von hinten an die Brust. Niemand hatte das mitbekommen oder sagte etwas dazu, ich kam auch nicht auf die Idee, um Hilfe zu bitten. Die „nicht behinderten“ Menschen aus der Kirchgemeinde erzählten sich, wie erfüllend der Kontakt zu „den Behinderten“ sei. Wie sollten meine Erfahrungen da reinpassen? Auch hatte ich Angst davor, mich erklären zu müssen, befürchtete, dass das Hauptinteresse von Seiten der Kirchgemeinde womöglich darin liegen könnte, mich als Betreuerin zu halten. Ich wollte aber nicht mehr kommen!

Der junge Mann, der mich so heftig angegrapscht hatte, konnte in dieser Situation keine Verantwortung übernehmen. Der Pastor und die Kirchgemeinde waren nicht präsent. Also blieb alles an mir hängen. Ich schob vor, ich hätte zuviel für die Schule zu tun. Der Pastor fragte noch ein paar Mal nach, aber ich blieb dabei. Damit war die Geschichte vorbei, und bis heute habe ich tatsächlich noch niemandem davon erzählt.

Es macht wirklich Spaß, die Gruppe ist nett, alles ist fein.

Jahre später, Niederlande. Mein damaliger Freund hat mir einen Job vermittelt: er und ich und ein Sozialpädagoge fahren mit einer Gruppe geistig behinderter Menschen segeln. Es macht wirklich Spaß, die Gruppe ist nett, alles ist fein. Und im Prinzip, wie auf jeder Klassenfahrt – immer mal wieder gibt es irgendwelche Aufreger, die man dann klären und nach denen man die Ruhe wiederherstellen muss. Es gibt Pärchen, die schon lange zusammen sind, und es gibt frisch Verliebte. Eine junge Frau mit Down Syndrom bändelt mit einem Mann aus der Gruppe (die Behinderung weiß ich nicht) an, sie haben Spaß. Am letzten Tag, alle packen, gehe ich nochmal durch die Zimmer der Frauen um zu gucken, ob jemand Unterstützung braucht. Quatsch, sagen sie alle, und haben bereits weitaus strukturierter gepackt als ich. Die junge Frau mit dem Down-Syndrom wird von ihren Zimmergenossinnen bestürmt, „was“ zu sagen. Sie sei im Bad gewesen und da sei der junge Mann, mit dem sie sich angefreundet habe einfach reingekommen. Das sei nicht in Ordnung, sage ich ihr, und dass ich es mit dem Gruppenleiter bespräche. Als ich ihn sehe, ist allerdings Stress angesagt: Einer unserer Teilnehmer hat sich abgeseilt. Bis er wieder da ist und alles geklärt ist, ist Schlafenszeit, am nächsten Morgen Aufbruch, und irgendwie vergesse ich, mit ihm zu sprechen.

Wenig später, ich bin schon wieder in Leipzig, ein Anruf: Die Eltern der jungen Frau haben Anzeige gegen den jungen Mann gestellt, der Vorwurf: Vergewaltigung. Mir wird schlecht. Wieso habe ich an dem betreffenden Tag nicht geschaltet? Wir tragen im Team zusammen, was wir beobachtet haben, äußerlich waren die beiden ein Herz und eine Seele, und wenn es einvernehmlichen Sex gegeben haben sollte, dann ginge uns das einfach nichts an. Aber natürlich haben wir sie, die Verantwortung, unsere Teilnehmer_innen vor Übergriffen zu schützen, bzw. Ansprechpartner_innen zu sein.

Letztlich sind geistig behinderte Menschen absolut gefährdet, wenn es um Missbrauch geht.

Was nun wirklich geschehen ist? Wir werden es nie erfahren. Die Polizei hat ermittelt, aber es gab keine stichhaltigen Beweise oder Aussagen. Die junge Frau schien nicht traumatisiert (ein Glück!), und so verlief die Sache im Sande. Letztlich sind geistig behinderte Menschen absolut gefährdet, wenn es um Missbrauch geht, denn ihre Aussagen werden noch stärker angezweifelt, als die anderer Opfergruppen. Das betrifft selbstredend auch den Missbrauch durch nicht behinderte Menschen, das sollte man niemals aus dem Blick verlieren.

Ich jedenfalls habe damals richtig Bockmist gebaut. Es mag dafür gute Gründe geben (keinerlei Ausbildung zum Beispiel), unterm Strich bin ich meiner Verantwortung nicht gerecht geworden.

Jahre vergingen, irgendwann unterrichtete ich Heilerziehungspfleger_innen im Fach Theaterpädagogik und die erzählten mir Geschichten: Von geistig behinderten Menschen, die einsam waren und blieben, von der Frage der Verhütung, und wie Familien damit umgingen, von sexuellen Bedürfnissen, die unerfüllt blieben, und von einigen Pfleger_innen, die in der Spätschicht abends nach 22 Uhr eine Prostituierte anriefen, die regelmäßig ins Heim kam.

Grundsätzlich würde ich immer sagen, dass sexuelle Gewalt, grapschen, bedrängen nichts mit Sex zu tun hat. Eine Menschengruppe aber, die bis in diese intimsten Bereiche hinein reglementiert wird, hat vermutlich nur die Chance, „Gelegenheiten“ zu ergreifen. Das muss furchtbar sein.

Bleibt die Fage: Wer in all diesen Geschichten hat denn wirklich Verantwortung übernommen?

Wieder Jahre später, mein erstes Patenkind wird geboren, es hat Down Syndrom. Schon seine Geburt ist ein Politikum: Über 90% der Kinder mit Down-Syndrom werden abgetrieben. Im Einzelfall würde ich das nicht bewerten, in dieser Masse muss man das meiner Meinung nach bewerten. Einige Jahre später kommt ein zweites Patenkind, ebenfalls schwer behindert. Bei beiden beobachte ich, wie es so läuft mit der Inklusion, mein Interesse an dem Thema wächst. Ich lese Texte von Mareice Kaiser, Ninia LaGrande, Raul Krauthausen. Zum ersten Mal wird mir klar, wie klein wir die Teilnehmer_innen unserer Projekte gemacht haben: Weil wir gar nicht erst versucht haben, Grenzen abzustecken. Weil wir ihnen nicht zugetraut haben, diese zu respektieren. Oder ihre eigenen Grenzen zu benennen. Es gibt sicherlich geistig behinderte Menschen, die all das nicht können. Aber gewiss nicht alle. Wir hätten es wenigstens versuchen müssen.

Meine beiden Patenkinder, das möchte ich am Rande erwähnen, sind beide absolut der Hammer. Aber selbst wenn das nicht so wäre: Sie haben ein Recht darauf, dass man vernünftig mit ihnen kommuniziert. Aktuell vielleicht über Musik und Süßigkeiten. Irgendwann später dann auch über alles andere.

Vier Kinder, ein kranker Mann und die Frage, ob man drüber reden soll. Der Fall Anne Spiegel.

Ich hatte mich bisher nicht mit Anne Spiegel befasst, aber ihre entschuldigenden Worte beschäftigen mich sehr. Eine emotionale Frau die Sorgearbeit leistet, repräsentiert mich doch eigentlich besser, als ein Abgeordneter, der jeden zweiten Abend mit seiner Frau telefoniert?

Ich hatte mich bisher nicht mit Anne Spiegel befasst. Als das Hochwasser im letzten Sommer Menschen tötete und verheerende Schäden anrichtete, war ich schwer krank und bekam wenig davon mit. Dann gab es immer „größere“ Nachrichten: Bundestagswahl. Impfgegner. Ukraine. Der parallel arbeitende Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe zog an mir vorbei. Folglich hatte ich auch keine Meinung zu unserer jetzt Ex-Familienministerin.

Erst nach ihrem Statement, ihrer öffentlichen Entschuldigung am Sonntagabend las ich mich ein – und der ganze Vorgang lässt mich nicht mehr los. Warum?

Ich finde es natürlich nicht gut, wenn Politiker_innen Sachverhalte verschweigen oder sogar lügen. Ich stelle es mir sehr schwer vor, wenn jede SMS öffentlich gemacht werden kann – ich schreibe selber so flapsig, dass ich eine derartige Karierre wohl nie machen könnte. Es gehört aber zum Job, Transparenz auszuhalten – wenn man dann schlecht da steht, hat man das selbst zu verantworten.

Absolut gut, wenn Politiker_innen ein Privatleben haben.

Ich finde es absolut, und das möchte ich betonen, ABSOLUT gut, wenn Politiker_innen ein Privatleben haben. Und damit meine ich nicht Frau und Kinder irgendwo am anderen Ende des Landes. Sondern ein echtes Gestalten dieses Lebens, eine echte Kommunikation und natürlich auch Sorgearbeit. Ich mag ihm Unrecht tun, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Friedrich Merz weiß, in welchem Alter seine Töchter trocken geworden sind, wie ihre besten Kindergartenfreund_innen hießen und welches Pausenbrot sie immer vergammeln ließen. Und da sind familiäre Krisen, Krankheiten, Streit noch gar nicht mit eingeschlossen.

Anne Spiegel hat all das offen gelegt, spät, aber wer würde das schon tun, so lange er_sie nicht mit dem Rücken zur Wand steht. Sie hat genau das getan, wovon Frauen im Berufsleben immer abzuraten ist: Sie hat emotional, sichtlich unsicher über Schwierigkeiten in ihrem Privatleben gesprochen. Die (männliche) Presse ist damit überfordert. Sie habe „privateste Dinge“ erzählt (Bullshit, ich habe weder von einer Ehekrise noch von einnässenden Kindern oder Haarausfall gehört). Kanzler Scholz müsse schon aus Fürsorgepflicht für ihren Rücktritt sorgen (Anne Spiegel ist eine erwachsene Frau). Sie sei sehr schlecht beraten worden – ja, Angela Merkel hat sich vermutlich an den Kopf gefasst, aber soll es wirklich ein Tabu bleiben, Gefühle zu zeigen, über Mutterschaft und Familie zu sprechen? Die schlechteste Idee in der ganzen Geschichte war aus meiner Sicht, nicht sofort im letzten Sommer mit der ganzen Wahrheit rauszurücken – aber wie sehr wäre sie auch dann von der Öffentlichkeit zerrupft worden? Es ist leider eine Tatsache, dass ein emotionaler und persönlicher Auftritt der eigene Schwächen thematisiert, zumal von einer einigermaßen jungen Frau, dieser nicht zum Vorteil gereicht. Und um mal schön emotional zu bleiben: Das macht mich unheimlich wütend. Denn in einer politischen Landschaft, die so funktioniert, fühle ich mich nicht repräsentiert.

In einer politischen Landschaft, die so funktioniert, fühle ich mich nicht repräsentiert.

Genau wie Anne Spiegel bin ich Mutter. Ähnlich wie ihr Mann bin ich krank und muss Stress vermeiden. Daher kann ich aktuell nicht arbeiten. Meine Erkrankung ist hochemotional: Depression. Eine Volkskrankheit, übrigens eine, die vermehrt Frauen trifft. Ich bin nicht dumm, ich bin gut ausgebildet, aber in einem Politikbetrieb, der so wie oben beschrieben funktioniert, kann ich nicht arbeiten, also auch nicht meine Interessen vertreten. Kein Problem, dafür gibt es ja die repräsentative Demokratie. Nur: Kann mich eigentlich jemand vertreten, der nicht über Lebenskrisen sprechen darf, der sich dem Leistungsgedanken komplett unterwirft, der kaum Sorgearbeit leistet und mit zwei festgetackerten Grübchen durch den Tag trabt? Ernsthaft?

Wo sind sie, die depressiven Abgeordneten? (Die gibt`s mit Sicherheit!) Die alleinerziehenden Minister_innen? Die pflegenden Angehörigen?

Eine kleine Anregung für den_die nächste Familienminister_in: Richten Sie doch bitte mal einen Arbeitskreis (oder so) ein, in dem geprüft wird, wie man potentiellen Kolleg_innen, die Sorgearbeit für sich oder andere leisten, schwer krank, oder sonstwie benachteiligt sind, unterstützen könnte, um in Bundestag und Regierung mitzuarbeiten. Einfach mal konstruktiv an das Thema herangehen. Fänd ich klasse.

Für Anne Spiegel kommt das freilich zu spät. Kein Maskendeal, keine Fake-Firma in den USA, keine Parteispendenaffäre – einfach nur eine mangelhafte Kommunikation und der gute alte Sexismus haben gereicht. Vier Kinder, ein kranker Mann und die Frage, ob man drüber reden soll. Meine Bitte: Redet drüber, alle. Denn was sollen wir sonst tun.

Randnotizen VI

Endlich mal wieder Randnotizen! Es hat eine ganze Weile gedauert, aber nun gibt es wieder Geschichtenschnipsel aus meinem Leben – von geilem Gebäck bis zum Chrystal Meth-Lieferservice. Viel Spaß damit!

„Geil. Geil. Geil, geil.“ Ich laufe durchs Reudnitzcenter, die Stimme hinter mir lässt mich spontan an Stadtrandnazis denken. Vorsichtig drehe ich mich um, zwei Schränke in Jogging-Hosen, tätowiert bis ans Kinn, laufen hinter mir. „Geil, geil, geil. Weißt du was auch geil ist? Eierschecke!“ „Ja, geil. Richtig geil.“

„Findest du das lustig?“ Mein Sohn sitzt mit seiner Cousine zusammen im Bollerwagen. Sie deutet auf ein Einfamilienhaus, er mustert es prüfend. „Ja.“, antwortet er entschlossen. Ein oder zwei Sekunden vergehen. Dann lachen beide herzlich. Ich check’s nicht.

Dielheim, Baden-Württemberg. Dunkle Straße, helle Lichterketten, Einfamilienhäuser. Ein Mann mit Rollator und eine zweite Person mit Krûcken gehen langsam die Straße entlang. Ich steige aus dem Auto aus, die beiden starren mich an. Guten Abend, sage ich, guuuuten Aaaabend?!, antworten die beiden prüfend. Ich gehe ein paar Schritte und drehe mich um, sie starren noch immer. Noch ein paar Schritte, immernoch, sie gehen ganz langsam weiter und starren mich an, bis ich hinterm Haus verschwunden bin. Invalidenzombies, es gibt sie. In Baden-Württemberg.

Advent, das Wohnzimmer glitzert, ich sitze schmückmüde auf dem Sofa. Es klingelt an der Tür. Eine Stimme mit starkem osteuropäischen Akzent meldet sich freundlich: „Wollen Sie Chrystal Meth kaufen?“ -“ Was?!“ -“ Wollen Sie Chrystal Meth kaufen? Ist sehr billig!“ -“ Achso, äh…“, ich überlege, „… tut mir leid, aber mein Sohn ist noch zu jung dafür!“ Wir lachen beide.

Wann kommt die Impfpflicht?

Ich liege im Bett, Corona-frei erkältet, und scrolle durch die Berichterstattung zu Covid 19. Ich hatte ein bisschen den Anschluss verloren, dieses Virus bestimmt inzwischen schon so lange unseren Alltag, dass mich das Gefühl beschlichen hatte, es sei schon alles gesagt.


Im Prinzip stimmt das auch, nur: Wir fangen gerade einfach wieder von vorne an. Die Inzidenzen sind riesig, gerade hier in Sachsen, die Ansteckungsgefahr damit vor allem aber nicht nur für Ungeimpfte größer denn je, die Intensivstationen sind heillos überlastet. Und: Über jede Pups-Maßnahme, die diese Lage verbessern könnte, wird diskutiert, als solle flächendeckend Strychnin ins Trinkwasser eingespeist werden. Wir argumentieren ähnlich wie mein fünfjähriger Sohn im Angesicht der Zahnbürste, aber genauso dringend wie das Zähneputzen ist eben auch: die höhere Impfquote. Die Alternative (für Deutschland) lautet Durchseuchung, und das bedeutet faktisch, schwächere Menschen sterben zu lassen, damit wir uns nicht impfen lassen müssen. Kinder und Kranke. Ernsthaft?

Kinder und Kranke. Ernsthaft?

Das böse Wort in dieser Debatte lautet „Impfpflicht“, und natürlich ist das auch nicht schön: Der Staat greift in die körperliche Unversehrtheit der Bürger_innen ein. Absolut problematisch.
Allerdings tut der Staat das sowieso – auch wenn er keine Impfpflicht einführt. Etwa wenn Eltern durch die Schulpflicht gezwungen sind, ihre ungeimpften Kinder zur Schule zu schicken. Oder wenn ein_e Herzpatient_in stirbt, weil die Notaufnahme wegen Covid 19 überfüllt ist und ein weiter entferntes Krankenhaus angefahren werden muss. Oder auch ganz einfach, wenn wir alle, ob geimpft oder ungeimpft (die Impfung schützt nur vor schweren Verläufen) bei jedem verdammten Einkauf Angst vor der Ansteckung haben müssen.

Oder auch nicht, denn hat man von diesem Zustand längst die Nase voll und will einfach leben. Demo, Clubbing, Kölle Alaaf. Ich kann`s verstehen. Aber die Quittung kriegen wir dann auch wieder alle.


Jede potentielle Wähler_innenstimme von einem_r Querdenker_in scheint genauso viel wert zu sein, wie die von 10 Impfbefürworter_innen. Dabei wird man diese Menschen sowieso nicht erreichen. Ob Geflüchtete, Umweltschutz oder eben Covid-19, es gibt in Deutschland eine Szene, die sich auf die großen Themen draufsetzt und sie für sich nutzt. Und je mehr Raum man ihnen gibt, desto mehr Menschen verunsichern sie. Das ist hier passiert.

Ich will die Impfpflicht. Für alle.

Und deshalb bin ich da jetzt auch komplett undiplomatisch.
Ich will die Impfpflicht. Für alle.
Ich will, dass alle Bürger_innen ihren Impftermin unaufgefordert vom Gesundheitsamt bekommen, und wer den nicht einhält, muss entweder ein Attest des_der Amtsarzts_ärztin einreichen, oder bis zur Bewältigung des Infektionsgeschehens zu Hause bleiben.
Ich will, dass das kontrolliert wird.
Und ich will zusätzlich Vernunft im alltäglichen Zusammenleben: Keine Großveranstaltungen bei den aktuellen Inzidenzen.
Ist das nicht einfach gesunder Menschenverstand?
Oder bin ich da komplett verblendet?
Grüße vom Erkältungslager.

Ich fühl’s nicht. Der Wahlkampf auf Instagram.

Aus einer eigenartigen Faszination heraus folge ich schon lange Philipp Amthor auf Instagram. Es ist langweilig (Texte) bis verstörend (Bilder). Vor der Wahl habe ich mein Interesse auf Spitzenpolitiker_innen aller großen Parteien ausgedehnt.

Ich fühl’s nicht. Die Bundestagswahl 2021 steht unmittelbar bevor, und anstatt Argumente vorgetragen zu bekommen, gucke ich mir bei einem blauhaarigen YouTuber an, welche Politiker_innen besonders korrupt sind. Das sind Inhalte, die besprochen werden müssen. Und im Gegensatz zu den Kolleg_innen im Bundestag hat er verstanden, wie social media funktioniert. Literally.

Da wäre zum Beispiel die CDU. Das Strickmuster von Amthor geht so: Gestern war ich in/an/auf ___________. Gute Gespräche und spannende Diskussionen mit __________. Danke _______ für die Organisation dieser Veranstaltung! Gemeinsam konnten wir zeigen: Kluge Sachpolitik statt linker Experimente! Plus Bild von Amthor in Anzug und mit einem Karpfen. Oder so. Wahrscheinlich hat er sich diesen Lückentext auf den Unterarm tätowiert, er nutzt ihn jedenfalls ausgiebig. Noch nie dürfte ich lesen, was diese klare Sachpolitik für Ziele verfolgt, worin sie besteht… Nix. Also mal lieber bei Armin Laschet vorbeischauen.

Da läuft der Laden nämlich.

Nordrhein-Westfalen. Armin Laschet postet gern zu Nordrhein-Westfalen. Da läuft der Laden nämlich. Ansonsten sieht man viele Bilder mit einem freundlichen Gesicht (ja, ich meine schon seins). Je näher die Wahl rückt, desto größer ist natürlich schon der Druck, insofern verirren sich inzwischen auch Zeilen aus dem Parteiprogramm in die Texte. Was diese mit seiner Person zu tun haben, was ihm besonders wichtig ist, wie er persönlich Politik gestalten will? Ich fühl’s nicht und ich lese es auch nicht.

Als Sahnehäubchen dann noch Friedrich Merz dabei zuzusehen, wie er durch das Sauerland marschiert (spaziert kann ich da einfach nicht sagen) gibt der Sache dann den Rest: Merz würde alles tun, damit ihm die CDU wieder gehört, und wenn er für dieses Instagram raus in die Natur muss, dann bitte. Er geht mit der Zeit. Und die Zeit geht ihm bitte aus dem Weg.

Und wie sieht’s bei den Freund_innen der CDU aus, was macht die FDP? Christian Lindner postet fleißig, bringt auch ein paar Inhalte unter und zählt gerne die anstehenden Wahlkampf-Termine aus. Alles ganz ordentlich gemacht. Ich fühl’s trotzdem wieder nicht, und der Grund ist banal: Ich bin eine arbeitsunfähige Künstlerin, die auf die 40 zugeht und kein Wohneigentum hat. Mich gibt es bei der FDP nicht. Wir haben uns nichts zu sagen. Ich werde „es“ nicht aus eigener Kraft schaffen. Wohlwollend nehme ich noch zur Kenntnis, dass Lindner sich einen Bart hat stehen lassen, so dass man die aktuellen Bilder von denen der letzten Wahl unterscheiden kann. Und damit bin ich raus.

Ich muss hässlich lachen.

Wenden wir uns den linken Parteien zu, denke ich, muss hässlich lachen und suche nach Olaf Scholz. Der megalinke Shootingstar der Umfragen. Natürlich auch auf Insta. Allein… Er postet nichts! Alle paar Jahre mal ein blasser Text, keine Stories, die SPD ernährt sich von alten Leuten, und die sind nicht in den sozialen Netzwerken unterwegs. Und außerdem klappt es so prima, sich einfach hinter Laschet zu verstecken während dieser vor sich hinonkelt, dass man da noch nicht früher drauf gekommen ist… Jedenfalls: Keine Ahnung, wofür Olaf Scholz inhaltlich steht, ich weiß nur Cum-Ex und Wirecard. Obwohl er dazu auch nichts schreibt. Aber das kommt irgendwie in jedem Text vor, den ich über ihn lese. Danke, liebe informierte Texteschreiber_innen!

Die CDU wird natürlich nicht müde zu beschwören, dass es nach der Wahl ein rot-rotes Bündnis geben würde, und dass damit Stalin kurz vor Berlin stehen würde, praktisch. Das ist natürlich möglich, aus dem Instagram-Auftritt von Janine Wissler geht das eigentlich aber nicht hervor. Hier findet man fundierte Überschriften zu Texten, die es nicht gibt, Auflistungen von Tourdaten und Fotos von Plakaten in Bildzeitungsoptik. Keine Ahnung, welchen Bezug die Kandidatin zu ihren Themen hat. Keine Ahnung, was sie auf Instagram überhaupt will. Auch hier gilt wieder: Ich fühl’s nicht.

Da steckt viel Arbeit drin.

Gibt es denn auch ein Positivbeispiel? Na klar, ich habe es mir bis zum Schluss aufgehoben: Annalena Baerbock und Robert Habeck. Jeden Tag posten sie beide einen längeren Text, in dem sie erst auf die Orte eingehen, die sie besucht haben, von dort zu einem Thema kommen, ihren Bezug dazu erklären und dann auf die betreffenden Pläne ihres Programms eingehen. Da steckt viel Arbeit drin, soviel Arbeit macht sich keine andere Partei. Vermutlich verschrecken die langen Texte bildungsferne Wähler_innen, grundsätzlich sind sie aber einfach und klar formuliert. Von den Grünen weiß ich ziemlich genau was sie wie machen wollen. Isso.

Insgesamt aber war der Wahlkampf auf Instagram beleidigend langweilig. Und so hoffe ich einmal mehr, dass die Zeit der Trielle und großen Reden schnell vorbeigeht. Wen ich wähle? Normalerweise erzähle ich das nicht. Aber dieses Mal ist es einfach:

Ich habe einen kleinen Sohn. Ich will nicht, dass er gegrillt wird. Deshalb wähle ich die Partei mit dem besten Klimaschutzkonzept. Und das sind objektiv die Grünen. Ob mit Instagram oder ohne.

Bitte wählt die auch. Das fühle ich. Danke.

PS: Falls irgendein Schlaumeier anmerken möchte, dass ich die AfD vergessen habe: Ja. Das war auch so gemeint. Danke.

PPS: Und die CSU? Ich folge Andi Scheuer. Textende.

Warum ich erst im Internet nicht über meine Depressionen gesprochen habe und dann umso mehr

Zunächst die harten Fakten:
Ich habe schwere Depressionen. Erstmals diagnostiziert im Herbst 2007, dann in Episoden alle paar Jahre. Seit 2018 ist es nochmal schwieriger geworden: Derzeit beeinträchtigt mich die Erkrankung während eines Großteils meiner Zeit. Wie es weitergeht, weiß ich nicht.

Hinter diesen knappen Sätzen stehen natürlich viele Geschichten: Eine lange Krankengeschichte, ja, aber auch Geschichten des Lernens über mich selbst, von kreativen Phasen, die sich immer an meine Tiefs anschlossen, vom Wissen um Grenzen und menschliche Zusammenhänge, von Rhythmen, Mut und Mutlosigkeit. Und von einer Frage, die banaler nicht sein könnte: Wem erzähle ich davon?

Ich schäme mich nicht für meine Krankheit.

Äußerlich war ich in dieser Frage immer sehr klar: Ich schäme mich nicht für meine Krankheit. Aber sie definiert mich nicht. Deshalb möchte ich mich online nicht über sie äußern. Mein Alptraum: Dass man irgendwann „Solveig Hoffmann“ googlet und „Depression“ vorgeschlagen bekommt.

Dass unterschwellig natürlich noch eine Menge anderer Gedanken mitschwangen – heute sehe ich das weitaus deutlicher, als während der ersten 11 Jahre meiner Krankengeschichte. Die erklärenden Sätze: „aber ich komme gut aus dem Bett“, „ich bin trotzdem ganz lustig“, „die Medikamente verändern meine Persönlichkeit nicht“. Die ewige, leidige Frage, ob man beruflichen Kontakten von seiner Krankheit erzählen soll. NEIN, schrien die einen, das sei eine ganz schlechte Idee. Aber wenn du ihnen vertraust, argumentierten die anderen, dann sei die Vertrauenbasis dadurch noch größer. Beides habe ich erlebt: Klare, persönliche Absprachen, aber auch den Verlust eines Auftrags, nachdem ich meine Diagnose benannt hatte. Diskriminierung war es, eine Diskriminierte war ich. Muss man auch erstmal schlucken.

Aber ich war stark, dachte ich. Und die Depression nur ein Teil meines Lebens. Wer mich näher kannte, der wusste bescheid. Die anderen nicht. Dann kam 2018.

Dann kam 2018.

Nach Monaten des Projekte Absagens, durch den Wald Laufens, Medikamente Schluckens kapitulierte ich und ging akut depressiv ins Krankenhaus. Ich sollte lange dort bleiben. Mein Gesundheitszustand schwankte so stark, dass ich nicht entlassen werden konnte. Und in dieser Kraftprobe löste sich die Regel „keine Depression im Internet“ irgendwie in Luft auf. Erst in diesem Artikel hier auf dem Blog, dann in meinem Kranichprojekt auf Instagram: Wenn ich nicht weiter wusste, faltete ich Kraniche und hängte sie in die Bäume. Fotos davon stellte ich unter #kranichcontent auf Instagram. Es wurden viele Fotos und noch viel mehr Kraniche. Und das Projekt und die Rückmeldungen darauf gaben mir viel Kraft.

Was hatte mich bewogen, meine Regel zu kippen? Als erstes natürlich der support, den ich ab sofort im Internet erfuhr. Mein Instagram-Account liegt in einer äußerst wertschätzenden, bestärkenden Blase. Als zweites die bittere Erkenntnis, dass mich meine Krankheit eben sehr wohl definiert. Natürlich habe ich noch 1000 andere Dinge zu bieten, aber nichtsdestotrotz ist die Depression etwas, was die Leute von mir wissen müssen, wenn sie mich verstehen wollen. Und drittens, und das habe ich erst im Tun begriffen, ist der einzige Grund, sich nicht öffentlich zu seiner Krankheit zu äußern, die Angst vor Diskriminierung.

Es gibt überhaupt keinen Grund, etwas so Wichtiges von mir zu verschweigen.

Das wollte ich lange nicht einsehen, aber es ist wahr. Es gibt überhaupt keinen vernünftigen Grund, etwas so Wichtiges von sich zu verschweigen, es sei denn, man erwartet Nachteile, abfällige Bemerkungen oder Schlimmeres. Diese Angst sitzt tief: Schon allein die Tatsache, dass ich inzwischen auch sehr persönlich über mich schreibe, aktiviert regelmäßig meine unbarmherzige innere Kritikerin: Das ist eine Nabelschau, peinlich, zuviel… Ist es nicht. Was ich von mir erzähle, entscheide ich, und wenn es für mich stimmt, dann stimmt es. Meine Depression gehört mir, deshalb darf ich sie teilen, mit wem immer ich will.

Ich bin keine Heldin. Aber in den letzten Jahren habe ich gelitten. Sehr. Genug um mir zu wünschen, dass mir die Meinung potentiell Diskriminierender egal ist. Ich bin ich, mit Depression, take it or leave it.

Deswegen habe ich früher im Internet nicht über meine Krankheit gesprochen; jetzt aber umso mehr.

2020 gelesen

Wie jedes Jahr habe ich mir notiert, was ich 2020 gelesen habe – und zwar ehrlich mit Höhen und Tiefpunkten. Bitte sehr:

Katja Oskamp: Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin. – Autorin macht nach einigen Misserfolgen in Fußpflege um dann wiederum davon zu erzählen; dieses Konzept kann ja nur funktionieren. Für mich eine überzeugende Mischung aus Literatur und …Füßen. Macht fröhlich, traurig, ehrlich.

Sybille Lewitscharoff: Apostoloff – Wegen des mir nichts sagenden Titel stand dieses Buch viele Jahre lang unberührt in meinem Bücherregal. Eine Verschwendung. Die abgefahrene Story, die ausschweifenden Beschreibungen Bulgariens sind es die Mühe wert, sich erstmal reinzufuchsen in all die vielen Namen und Situationen. Sollte Corona denn irgendwann mal vorbei sein, dann steht Bulgarien jetzt auf jeden Fall auf meiner Reiseliste.

Kari Herbert: Rebel Artists – Eine Bilderbuch für junge Frauen, und es ist richtig, richtig toll! Bekannte und unbekannte Künstlerinnen werden vorgestellt, immer kurz und knapp, aber Lust auf mehr machend. Und das Beste: Es ist total empowernd. Hätte ich gern zum 18. Geburtstag gekriegt.

Gerald Hüther, Marcell Heinrich, Mitch Senf: #educationforfuture – Das Buch von meinen ehemaligen Arbeitsgebern. Und Gerald Hüther, der natürlich eine Koryphähe ist. Die Gedanken in diesem Buch waren mir nicht unbedingt neu, aber wer so ungefähr meine Einstellung zur Schulbildung nachlesen will, der findet sie hier wunderbar zu Papier gebracht.

Liza Cody: Gimme more – Endlich mal wieder was zum Spaß gelesen. Schöne Geschichte zum Music Business, seltenerweise mit einem feministischen Dreh.

Lucy Maud Montgomery: Anne in Kingsport, Anne in Four Winds, Anne in Ingleside, Anne und Rilla – Zum ersten Mal verliebt, Anne und Rilla – der Weg ins Glück – Bücher, die man als Kind und Jugendliche tausendfach gelesen hat, haben einen besonderen Zauber: Jede Seite ist so vertraut. Ich hatte beim Lesen wieder das Gefühl in meine alte Kinderbettwäsche gekuschelt auf meinem Bett in meinem 8 qm-Zimmer zu liegen. War natürlich nicht so, und deshalb sind mir auch die zahlreichen Widersprüche schmerzhaft aufgefallen. Schlecht übersetzt? Vielleicht sollte ich die Reihe nochmal auf englisch lesen. Ohne das Bettwäsche-Gefühl.

Isaac Singer, Julian Jusim: Der Kaiser von China, der alles auf den Kopf stellte. – Meine Oma starb vor acht Jahren. Vorher hat sie mir noch dieses Bilderbuch über Trump geschenkt.

Toni Feller: Die Sünde – Dieses Buch habe ich mal beim KarliBeben gewonnen. Es ist schlecht. Vor allem die Art, wie über Homosexuelle geschrieben wird, ist unterirdisch. Trotzdem hat es mich darauf gebracht mal wieder Krimis zu lesen, und zwar…

Jo Nesbo: Kakerlaken, Der Fledermausmann, Rotkehlchen, Die Fährte – …gute Krimis.

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts – Hat mir sehr gefallen. Die Charaktere, die Ironie, die Klostergans, kann ich alles empfehlen. Vielleicht besonders, weil ich aus dem Westen in den Osten gezogen bin.

Margarete Stokowski: Die letzten Tage des Patriachats – Ich mag die Autorin, ich mag es, dass sie gerne mal eine steile These in den Raum stellt, am besten schön flapsig, und dann regen sich alle auf, und am Ende kommt einem die steile These ganz alltäglich und normal vor, gegen all den Staub, der da aufgewirbelt wird. Klasse Strategie. An dieser Sammlung ihrer Kolumnen mochte ich, dass man an ihr auch verfolgen kann, wie sie als Autorin gestartet ist und dann immer besser wurde. Macht Mut, selbst mit irgendwas loszulegen.

Ilona Einwohlt: Mein Pickel und ich – Dieses Buch habe ich auf dem Mülleimer eines Spielplatzes gefunden und anschließend auf dem Klo gelesen. Ich war einfach neugierig, was die Elfjährigen von heute so lesen, und Frau Einwohlt scheint ein ganzes Imperium um ihre Pubertätswerke herum aufgebaut zu haben. Sie gibt sogar feministische Seminare. Warum sie dann in ihrem Buch Mädchen beibringt, sich nicht zu aufreizend anzuziehen, weil dann „böse Männer“ kommen könnten, erschließt sich mir nicht. Davon mal abgesehen fand ich das Buch langweilig. Keine Empfehlung.

Emma Becker: La Maison – Eine Autorin, die als Hure arbeitet und dann darüber schreibt – das vermarktet sich natürlich von selbst. Aber ganz ehrlich: Seit ich das Buch gelesen habe, beschäftigt es mich, weil es eben nicht so eindimensional ist, wie man vermuten könnte. Weil Selbstbestimmung ein Wert ist, den ich der Autorin abkaufe. Weil ich den Wunsch, geliebt zu werden verstehe, und es spannend finde, wo in der Geschichte er auftaucht. Weil es witzig ist, heiß und auch sehr, sehr prosaisch. Interessantes Buch.

Und das waren sie, meine Bücher von 2020. Unter dem Weihnachtsbaum liegt schon ein großer Stapel mit Nachschub für das nächste Jahr. Ich schließe mit einem Lied, das dieses Jahr für mich wichtig war – und bin sehr, sehr neugierig auf 2021.

Bis denn!

Let`s dance to Joy Division