Offener Brief an den Kulturausschuss des Bundestags

Sehr geehrte Damen und Herren des Kulturausschusses,

seit gestern geistert Ihr offener Brief durch meine Timeline – viele meiner Kolleg_innen haben ihn bereits mitgezeichnet. Als freie Kulturschaffende, die viel mit Gefllüchteten arbeitet und sich immer wieder mit der Frage nach einer demokratischen Kultur auseinandersetzt, bin auch ich eigentlich dafür prädestiniert, ihn zu unterschreiben.
Ich werde es nicht tun.

Tatsächlich haben Sie in meinem Fall das glatte Gegenteil erreicht. Ich sage: Gebt der AfD unbedingt den Kulturausschuss!

Das möchte ich erklären.
Sie schreiben „Es darf nicht passieren, dass beim Kampf um Einflusssphären die AfD an einer der sensibelsten, wichtigsten Stellen unseres parlamentarischen Systems ihr nationalistisches Gift in die Debatten injiziert: Der deutschen Kulturpolitik.“ – Ich gebe Ihnen völlig recht – mir wird übel, wenn ich mir das vorstelle. Ich will nicht, dass diese Partei Einfluss auf unsere Medien und unsere Kulturlandschaft hat.
Es ist aber bereits passiert – die AfD wurde gewählt.

Weiterhin listen Sie Ihre Arbeit auf, und in wirklich jedem Punkt bin ich mindestens genauso unglücklich, unzufrieden, besorgt und beschämt wie Sie, wenn ich mir Ihre Zusammenarbeit unter einem etwaigen Vorsitz der AfD vorstelle. Ein_e Abgeordnete_r dieser Partei als Ansprechpartner_in für Holocaustgedenkstätten oder Partner aus dem Ausland? Unvorstellbar.
Es ist aber möglich – die AfD wurde gewählt.

Sollen wir jetzt die üblichen Spielregeln außer Kraft setzen, „damit dieser Kelch am Kulturaussschuss vorübergehe“?
Denn mehr ist in einer Demokratie nicht zu erreichen. Die AfD wird in Ausschüssen sitzen, und sie wird auch irgendwo den Vorsitz haben. Ich möchte mir das auch in anderen Ressorts nicht vorstellen: Familienpolitik unter dem Einfluss der AfD? Katastrophal für Frauen und LGBTQ. Entwicklungshilfe? Muss ich nicht ausführen. Einfach gleich der Innenausschuss? Für Geflüchtete grauenvolle Aussichten.
Der AfD einfach gar keine Funktionen übertragen?
Dann hätte sie nicht zur Wahl zugelassen werden dürfen.
Und ich kann es nicht oft genug wiederholen: Sie wurde nunmal gewählt.

Warum also sollte die AfD gerade dem Kulturausschuss vorsitzen?
Weil hier die Künstler_innen vertreten werden – und die werden wachsam bleiben, aufbegehren, Wege finden. Wenn man Ihnen den Mund verbietet, drücken sie sich mit den Füßen aus. Und wenn die AfD über Kulturpolitik spricht, dann lachen wir doch laut. Fakt ist, dass diese Partei hier kein Konzept und schlicht keine Ahnung hat und uns nicht gewachsen ist. Sie wird in diesem Ausschuss in erster Linie für Peinlichkeiten sorgen. Also wären wir jetzt gut beraten, selbstbewusst zu sein. Aus dem Elfenbeinturm herauszutreten, uns einmal kurz zu schütteln und dann ganz klar anzufangen, diese Partei zu zerlegen, bis nichts mehr von ihr übrig ist. Genau das ist doch unsere Stärke, also los!

Dafür wünsche ich mir Ihre Unterstützung – als gewählte Vertreter_innen meiner Berufsgruppe. Hauen Sie für uns kraftvoll auf den Tisch! Und kraftvoll heißt eben auch: Mit einem Bekenntnis, keine Sonderregeln zu brauchen.

Hochachtungsvoll
Solveig Hoffmann

(Soziokultur) Kunst mit normalen Menschen.

Soziokultur ist ein Wort, das ich nicht mag.
Soziokultur ist ein Wort, das Kulturinstitutionen einem hinterherrufen, wenn man nicht so toll tanzen kann wie die richtigen Künstler_innen. Soziokultur ist ein Wort, zu dem rotbackige Flüchtlingskinder mit Hartz IV-Senior_innen im Chor Trickfilme schnitzen. Vor allem aber ist Soziokultur ein Wort, dass ich nicht verstehe.

Das mag daran liegen, dass der Begriff in meinem Studium der Theaterwissenschaften kein einziges Mal aufgetaucht ist; weder im Seminar über Arne Sierens und Alain Platel, die beide mit nicht professionellen Schauspieler_innen gearbeitet haben, noch im Seminar über Kinder- und Jugendtheater, schon gar nicht im Zusammenhang mit den zahlreichen Bürgerchören von Einar Schleef bis Volker Lösch. Und ich höre den unausgesprochenen Satz förmlich in meinem Kopf: „Das ist doch keine Soziokultur! Das ist doch richtige Kunst!“ Auch in den Erziehungswissenschaften spielte die Soziokultur keine Rolle, höchstens wurde die kulturelle Bildung mal kurz gestreift. Zurecht, denn Fragen von Erziehung und Sozialisation können zwar wie alle gesellschaftlichen Fragen in der Kunst aufgegriffen werden, nicht aber ist es Aufgabe der Pädagogik, Einfluss auf die Kunst zu nehmen. Damit verlöre die Kunst ihren zweckfreien Charakter, und der sollte uns allen heilig sein.

Was also soll das sein: Soziokultur? Die Bundesvereinigung soziokultureller Zentren erklärt es netterweise gleich auf ihrem Internetauftritt: „Der Begriff Soziokultur beschreibt aber auch eine kulturelle Praxis mit starkem Gesellschaftsbezug, die sich auf sehr verschiedene Weise realisieren kann, immer entlang der aktuellen lokalen Bedürfnisse und Gegebenheiten.“ Und Wikipedia erklärt ganz ähnlich: „Soziokultur ist auch ein Fachbegriff der Kulturpolitik. Er bezeichnet hier eine direkte Hinwendung von Akteuren und Kultureinrichtungen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und zum Alltag.“

Nun gut. Vor vielen Jahren wurde ich mal im Centraltheater gefragt, was ich später mal machen wolle und antwortete spontan: Kunst mit normalen Menschen. Das war natürlich salopp und trotzdem irgendwie richtig, und nach einigermaßen gründlicher Abnutzung durch bürokratische Förderstrukturen frage ich mich inzwischen schon, welchen Begriff man sich für diesen meinen Plan noch hätte einfallen lassen können: Normalokunst? (Übrigens schreibe ich gerade Centraltheater und nicht Spinnwerk, denn sonst werde ich ja doch wieder ins Nichtschwimmerbecken eingeordnet, und auch wenn ich nicht tanzen kann, schwimmen schaffe ich schon. Aber ich schweife ab.)

Wenn die „direkte Hinwendung von Akteuren und Kultureinrichtungen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und zum Alltag“ in der Kunst als Soziokultur bezeichnet wird, woher kommt dann das Unbehagen, das ich unter Kolleg_innen und in den Institutionen hier in Leipzig immer wieder wahrnehme? Wieso soll ich dann in jedem zweiten Antrag die gesellschaftliche Relevanz des Projekts erläutern – mich aber ganz klar zwischen den jeweils zugeordneten Fördertöpfen und Institutionen der Soziokultur respektive Hochkultur entscheiden? Und wieder die Begrifflichkeiten: Soziokultur und Hochkultur, really? Wäre ein besseres Wort für meine Normalokunst dann vielleicht Tiefkultur?

Natürlich geht es hier einfach um die Abgrenzung von Elite von eben den „Normalos“, und wenn die Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren diesen Gegensatz als inzwischen „weitgehend überholt“ beschreibt, dann ist das niedlich. Niedlich deshalb, weil kein Vertreter der Hochkultur auf die Idee käme, sich dergleichen einfach mal ganz oben auf den eigenen Web-Auftritt zu schreiben. Weil es hier einfach nicht als relevant empfunden wird, weil es möglicherweise einen Bedarf gibt, sich abzugrenzen, weil weil weil. Und ja, niedlich ist auch, wie auf Wikipedia die Anfänge der soziokulturellen Zentren beschrieben werden: „Friedens-, Umwelt-, Frauen- oder Jugendzentrumsbewegung suchten nach Freiräumen, die sie häufig in alten Fabriken fanden.“ Also genau die Bewegungen, die sich sowieso lange hinten anstellen durften wenn es um Geld und gesellschaftliche Anerkennung ging, die suchten sich dann auf eigene Faust ihre alten Fabrikhallen um unterfinanzierte Kunst zu machen. Man könnte sich mit ihnen solidarisieren, einfach weil das die Freiheit aller stützen würde, sich öffentlich und kreativ zu betätigen. Aber man kann natürlich auch an „Umwelttheater“ denken. „Friedensperformances“. Oder, Gott sei meiner Seele gnädig: „Frauenkunst“. Dann doch lieber Elite sein?

Bei all dem klärt sich für mich aber immer noch nicht, warum die „Hinwendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und zum Alltag“ einen gesonderten Begriff benötigt. Ist Hochkultur etwa nur jene Kunst, die sich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abwendet?

Nun, vielleicht sind die sogenannten soziokulturellen Projekte an dieser Stelle ja wirklich näher dran. Einige Beispiele aus der eigenen Praxis: 2013 starteten Katharina Wessel und ich das Projekt „Forum frei“, damals gefördert unter anderem durch den Fonds Soziokultur. Unser ästhetisches Material: Menschenverachtende Kommentare aus Internetforen. Ein Jahr später ein Thema, das von Heiko Maas und vielen anderen groß entdeckt wurde. Plötzlich in viel größerem Umfang förderfähig. Wir waren „zu früh“. 2014, wir starten im selben Team das Projekt „Wo die wilden Bienen wohnen“, gründen kurz darauf einen Staat mit geflüchteten und nicht geflüchteten Kindern, das Ganze gefördert durch „tanz+theater machen stark“, einen Topf zur Förderung benachteiligter Kinder. Jetzt, 2017, ist die Staatengründung ein beliebtes Motiv auf deutschen Bühnen. Auch unsere Kolleg_innen von friendly fire haben ihren Staat gegründet. Mit anderer thematischer Gewichtung, mit Erwachsenen, mit Förderung der Hochkultur. Schöne Sache. Aber durften und konnten wir unsere Idee, mit der wir vor drei Jahren anfingen zu arbeiten, nur deshalb entwickeln, weil wir den Auftrag hatten, uns nah an die Kinder uns ihre Lebenswirklichkeit heranzubegeben? Um den Preis, diese Kinder dann bitte auch zu fördern – denn wer frühzeitig nah rangeht, der kann ja dann gleich auch noch pädagogische Aufträge mitnehmen? Zweckfrei fördert die Soziokultur in der Regel nicht. Auch wenn sich das viele Akteure sicherlich wünschen.

Doch wenn wir durch das ganz nahe Herangehen, das ganz sorgfältige Kommunizieren tatsächlich besonders früh bestimmtes Material bergen und erarbeiten könnten – wie toll wäre es dann, wenn wir nicht zwischen Soziokultur und Hochkultur unterscheiden sondern stattdessen einfach zusammenarbeiten würden? Es ist, und davon bin ich überzeugt, eine Kunst, mit Menschen kreativ in Kontakt zu kommen, vernünftig mit der daraus resultierenden Verantwortung umzugehen, eine besondere Begegnung zu erschaffen. Ich nenne das inzwischen nicht Tiefkultur, sondern Begegnungsdesign. Klingt besser, mehr nach bewilligtem Förderbescheid.

Zwischen den Zeilen, das kann ich wohl nicht leugnen, scheint hier eine beleidigte Leberwurst durch, die auf den Begriff der Soziokultur einprügelt, weil es eben auch nicht immer leicht ist, hier eingeordnet zu werden. Weil ich mit meinen Projekten nicht als bunte und lustige Pädagogik wahrgenommen werden möchte, sondern als Künstlerin. Werde ich das nicht? Es gibt da noch einen Aspekt, über den keiner spricht: Soziokultur erhält keine schlechten Kritiken.

Aha, da kann man schonmal sauer werden! Und zwar von beiden Seiten!

Jede_r Künstler_in hat schon Verrisse kassiert, und das ist nicht immer fair. Die sehbehinderten Aquarellmusikant_innen aus dem Plattenbaustadtteil können hingegen den größten Unsinn dichten – die Lokalzeitung wird sich freundlich äußern. Und das muss aufhören. Wenn ich ernst genommen werden will, dann muss ich mich auch Kritik stellen. Selbst wenn die Redakteurin keine Ahnung hat, wie sie die Kindergruppe „nett“ kritisieren soll, wenn der Redakteur nicht zwischen Konzept, Projektleitung und Kindergruppe unterscheiden kann. Sogar wenn der Text ungerechtfertigt, unfair oder schlampig geschrieben ist. Denn ab da wird mir zugetraut, damit fertig zu werden. Ab da bin ich kein einbeiniges Ballettmädchen mehr, das mit dem Fotografieren der Umwelttheatergruppe betraut wurde. Sondern ein Mensch, der sein Bestes gibt. Über alles, was weniger ist, mag ich hier gar nicht geschrieben haben.

Also: Her mit eurer Kritik an diesem möglicherweise ungerechtfertigten, unfairen oder schlampig geschriebenen Text! Danke.

Endlich: NETZWERKTREFFEN KUNST, KULTUR UND INTEGRATION

Es gibt in Leipzig (inzwischen) viele viele Künstler_innen und Kulturpädagog_innen, die sich mit Geflüchteten beschäftigen oder dies angesichts der aktuellen Debatte planen. Ideen und Anträge purzeln sozusagen um die Wette, und oft erfährt man erst viel zu spät von den Erfahrungen und Möglichkeiten des anderen. Gefühlt treffe ich seit ca. einem Jahr fast wöchentlich einen engagierten Menschen, der mir erzählt, jetzt mal eine Plattform zu schaffen/ein Treffen zu organisieren, bei dem „das alles vernetzt wird“. Am besten auch noch mit all den anderen ehrenamtlichen Projekten, sozialen Hilfen und kirchlichen Angeboten. Eine durchschlagende Wirkung hat von diesen Menschen in meiner Wahrnehmung noch niemand erzielt, wobei ich ihr Engagement sehr respektiere: Der Bedarf ist da, und es ist keine leichte Aufgabe, eine unüberschaubare Zahl nicht oder sehr verschieden organisierter Menschen an einen Tisch zu bringen.

Nun hat das LOFFT zum NETZWERKTREFFEN KUNST, KULTUR UND INTEGRATION eingeladen – nach langer Überlegung, was man im eigenen Theater angesichts der Debatte um Geflüchtete wirklich tun könne. Dass so lange überlegt wurde und nicht Hals über Kopf ein gut gemeintes Projekt angezettelt wurde, ist mir sympathisch. Denn wie gesagt: Ein solches Netzwerktreffen war überfällig. Und Ehrenamtler_innen/einzelne Akteure haben nunmal nicht die Ressourcen so breit einzuladen, wie eine Institution. Insofern wurde auf einen reellen Bedarf eingegangen.

Das wurde auch insofern schnell sichtbar, als es wirklich voll war – ca. 70 Personen – und dass auch nach Ende der Veranstaltung noch lange geredet wurde. Zum Glück beschränkte sich das Arbeiten nicht auf eine 2-stündige Vorstellungsrunde; stattdessen wurde klar strukturiert zu bestimmten Themen diskutiert. Und so entstand, was bei einer ersten Veranstaltung dieser Art entstehen muss: Ein weiter Überblick über ganz verschiedene Themen und Fragen, etwa zu den Zielen und Motivationen der Kulturschaffenden sich mit Geflüchteten zu beschäftigen, oder auch zu den ganz realen Problemen, die dabei auftauchen. Vieles ging mir persönlich nicht tief genug, aber das liegt wohl in der Natur eines ersten Treffens. Schade auch, dass mir kaum Vertreter_innen der großen städtischen Kultureinrichtungen über den Weg liefen – schließlich hätten gerade diese die Ressourcen, größere Projekte anzugehen. Und überhaupt: Warum musste dieses überfällige Netzwerktreffen mit dem LOFFT überhaupt von einem Vertreter der freien Szene gestemmt werden? Wäre das nicht eine wunderbare Aufgabe für das Kulturamt gewesen, das doch ein Interesse daran haben muss, all die Inititativen zu vernetzen und selbst einen Überblick zu erhalten? Zumal ein Förderschwerpunkt für das Jahr 2016 doch Inklusion und Migration heißt…

Am Ende des Abends stand eine große Aufzählung von Themen, Problemen, Fragen und Ideen. Die meisten betrafen all die vielen Probleme, die in der Arbeit mit Geflüchteten immer wieder auftauchen und um die man nicht herumkommt; letztlich existentielle Fragen um Politik, aber auch Lebenssicherung, Umgang mit Sprachproblemen, mit Traumata. Praktische Probleme, die riesengroß sind.

Was nun meines Erachtens ganz dringend diskutiert werden muss: Was ist unsere Rolle als Kulturschaffende in diesem Wust aus Fragen und Problemen? Sollten wir jetzt die besseren Sozialarbeiter_innen werden und nur ab und an ein paar Malstifte rauslegen? Oder rigoros die Loop-Station rausholen, auch wenn keiner mitmachen will und die Interessen der Geflüchteten möglicherweise ganz woanders liegen? Was kann Kunst zu der Situation wie sie jetzt ist beitragen?

Und wie können wir den Geflüchteten selbst besser zuhören, sie einbeziehen, mit ihnen zusammenarbeiten?

Eine Antwort darauf ist mir übrigens 2 Tage später über den Weg gelaufen. Lama Souissey hat schon oft für mich übersetzt: Im Bienenland, in der GfZK, im privaten Kontakt. Sie übersetzt für wahnsinnig viele Menschen in Leipzig, aber – sie studiert auch Illustration an der HGB. In ihrem Buch „Abud. Der Friseur (ohne Ausbildung)“ hat sie einen sehr einfachen und wunderschönen Weg gefunden, aus all dem, was sie in der Torgauer Straße gehört hat, Kunst zu machen. Sie hat einfach erzählt, was ihr erzählt wurde und was sie gesehen hat. Auf ihre eigene, persönliche Weise.

Vielleicht sollten wir damit erstmal anfangen?

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Freie KünstlerInnen: Vorreiter eines neoliberalen Systems?

„So kannst du nicht argumentieren!“
Letzter Abend des Bundeskongresses der freien Darstellenden Künste in Hamburg. Längst bin ich mit Freunden essen gegangen, drei Tage voller Diskussionen und Informationen rund um die Lobby-Arbeit der freien Szene liegen hinter mir. Und ich habe diese Tage genossen.

Es ist kein Geheimnis, dass die Bezahlung, ach was sag ich, schon die soziale Absicherung von freien Theaterschaffenden katastrophal ist. Zweifellos ist es wichtig und richtig, für faire Arbeitsbedingungen zu streiten, eben für die Themen, die auf dem Kongress besprochen wurden: Eine Honoraruntergrenze zum Beispiel. Sinnvolle Förderinstrumente und Qualitätskriterien. Und doch findet man den Teufel dann im Detail, und so sitze ich da mit meinen Freunden und argumentiere mich selbst ins Aus, in dem Versuch mein Unbehagen auszudrücken.

Denn was ist schon fair?
Ein fachfremdes Beispiel aus dem Bildungssektor wird gebracht: Von Doktoranden, die für 25 € pro Stunde unterrichten. Von studierten Lehrkräften ohne Promotion, die dann nur noch 23 € kriegen. Von Bachelors die sich über 20 € freuen dürfen. Und von Lehrkräften, die nicht mehr wiederkommen durften, weil sie keine Altersvorsorge bezahlen (konnten). KünstlerInnen sind beileibe nicht die einzigen, die schlecht bezahlt werden. Natürlich schreit das danach, sich zu wehren, zu verbünden. Und dann machen wir trotzdem unterfinanzierte Projekte. Kürzen bei uns selbst. Weil wir überhaupt etwas verdienen müssen. Aber auch, weil wir unser Projekt eben so gern umsetzen wollen.

Ich denke nicht, dass KünstlerInnen die einzigen sind, die für ihren Beruf brennen – das wäre völlig vermessen. Meine Achillesferse ist eher, dass ich das vage Gefühl habe, dass es Projekte gibt, die nicht (genug) gefördert werden, obwohl sie wichtig sind. Das ist dann eher die Frage, welchen Projekten Wert beigemessen wird. Und was hat „Wert“ mit „Fairness“ zu tun?

Ob ich mir nun Schuhe kaufe, ein Brot oder eine Theaterkarte: Die Wahrheit ist, dass ich den Wert all dessen überhaupt nicht in Geld einschätzen kann. Wenn ich privat den „angemessen“ teuren Biohonig kaufe, so bin ich für mein Projekt doch verpflichtet „sparsam“ zu kalkulieren, also den Billighonig von den Zuckerwasserbienen zu kaufen. Was meine Arbeit wert ist, kann ich höchstens anhand von Kategorien beziffern: Ausbildungsgrad. Nachfrage. Förderrichtlinien. Aber wenn ich mir den Zustand meines Büros an manchen Tagen anschauen, dann bin ich geneigt, den Wert einer Stunde Putzen sehr sehr hoch einzustufen, auch wenn ich dafür keinen Magisterabschluss brauche. Und deshalb habe ich kein persönliches, sicheres Gefühl dafür, was fair ist.

Und wenn ich nun für mein Kunstprojekt einen Förderantrag einreiche, dann entscheiden andere über dessen Wert, und das bedeutet eben, dass ich das Projekt verwirklichen kann, oder auch nicht. In meinem Kopf schätze ich Ideen inzwischen schon früh ein, wäge ab, ob sie „förderfähig“ sind, entscheide intuitiv, auf was ich meine Kraft verwende, und auf was nicht. Ob die Geldgeber in öffentlichen Häusern und privaten Stiftungen meinem Vorhaben, nun ja, Wert beimessen werden. Oder ob es sich nicht lohnt: Mich stundenlang hinzusetzen und die Anträge zu schreiben.

KünstlerInnen werden nicht nur VorreiterInnen eines neoliberalen Systems, wenn sie sich selbst und andere ausbeuten und für immer weniger Geld produzieren. Sie werden es auch, wenn sie nur noch marktgerechte Ideen produzieren.

Und deshalb wünsche ich mir noch mehr Lobbyarbeit: Nämlich auch Ideen für die Projekte, die gar nicht mehr formuliert werden. Die sich jeder Logik des Marktes entziehen und somit in diesem vielleicht gar nicht sichtbar werden können. Wir sind kreativ, verdammt. Da muss doch noch was gehen.

Bündnisse für Bildung – Verbesserungsvorschläge

„Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung“ – mit diesem Programm fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung über verschiedene Zwischenschritte Kooperationen, die benachteiligte Kinder und Jugendliche über kulturelle Bildung stärken. Das Programm ist mit 230 Millionen € über 5 Jahre ein wichtiges Förderprogramm – mehr dazu auf der  Seite des Ministeriums.

Demzufolge habe ich inzwischen auch schon in Projekten des Programms gearbeitet, bzw. sogar selbst (zusammen mit Katharina Wessel) ein Projekt entwickelt: „Wo die wilden Bienen wohnen“. Die Durchführung war und ist schwierig, manche Eckpunkte erscheinen mir nicht sinnvoll. Deshalb hier meine Verbesserungsvorschläge direkt aus der Doppelperspektive Projektleitung – Künstlerin/ Honorarkraft.

1. Wenn künstlerisches Denken und Handeln benachteiligte Menschen fördert, dann muss im Mittelpunkt eines Projekts in diesem Programm auch die Entwicklung eines guten künstlerischen Konzepts stehen. Damit einher geht dann auch die Aufwertung der KünstlerInnen, die im Projekt mitarbeiten. Derzeit bleibt ihnen zumindest offiziell nur die Rolle der „Honorarkräfte“. ABER: Keine Kunst ohne Künstler. Die Konzeptentwicklung muss gefördert und bezahlt werden.

2. Dasselbe gilt für das Bündnis. Es ist nicht so, dass MitarbeiterInnen aus Institutionen der Bildung und Kultur unausgelastet ihren Schreibtisch polieren. Wenn es vor dem Programm noch nicht genügend Kooperationen gab, dann braucht es eben nicht nur Projektgelder (für Honorarkräfte, Material, die Umsetzung der konkreten Idee), sondern auch Geld und Formate, um tragfähige Bündnisse zu schmieden. Wie kann wer wo gut zusammenarbeiten? Und zu welchem Zweck? Das erfahren wir nicht durch Projektgelder.

3. Die KünstlerInnen sind Honorarkräfte. Die Institutionen bilden ein Bündnis, bündeln ihre Mittel und Kompetenzen. Aber wer kümmert sich ums Geld? Laut Förderer ist dafür der beantragende Kooperationspartner zuständig. Doch die wenigsten Institutionen sind so gut ausgestattet, dass sie hier wirklich mit den KünstlerInnen zusammenarbeiten können. Ein prozessorientiertes Arbeiten, dass sich am künstlerischen Konzept orientiert, braucht enge Absprachen. Wann setzt sich endlich die Idee einer professionellen Produktionsleitung auch für Kunst mit Kindern und Jugendlichen durch?

In der „Erwachsenenkunst“ ist das längst anerkannt: Produktionsbüros wie ehrliche arbeit betreuen KünstlerInnen bei der Umsetzung der Projekte und bilden einen maßgeblichen Erfolgsfaktor. Im Programm „Doppelpass“ der Bundeskulturstiftung ist die professionelle Produktionsleitung inzwischen Voraussetzung für die Förderung. Auch hier geht es um Kooperationen, allerdings von festen Institutionen mit freien Künstlergruppen. Fakt ist: Wenn wir alle 3 Förderphasen mit unseren wilden Bienen durchlaufen haben, werden wir um die 40.000 € aus Steuergeldern ausgegeben haben. In der „Erwachsenenkunst“ würde das m.E. niemand mehr ohne Produktionsleitung händeln wollen.

4. Wir haben uns nun mit allen verwaltungstechnischen Details abgefunden, trotz guter Honorare unbezahlte Überstunden angehäuft, und dann… kommt die Ernüchterung: Die kommen nicht!

Erreicht werden sollen benachteiligte Kinder und Jugendliche im außerschulischen Bereich. Und die kommen oft einfach nicht.

Wenn man mit wirklich benachteiligten Menschen arbeitet, dann lernt man schnell: Das funktioniert nur über Beziehungsarbeit. Hier geht es um Menschen, die mit Institutionen schlechte Erfahrungen gemacht haben, die strukturiertes Arbeiten zum eigenen Vergnügen nicht kennen, denen Schriftlichkeit, Regeln und Formulare manchmal Angst machen. Die oftmals wenig Grund haben, zu vertrauen. Sich auf einer TeilnehmerInnen-Liste einzutragen kann eine schwere Entscheidung sein. Oder, wie im Bienenprojekt: Man möchte schon, aber man kann seinen Nachnamen „nur“ auf arabisch schreiben. Die Beziehungsarbeit, die benachteiligte Menschen in Projekte holt, wird von Honorarkräften geleistet, und sie muss endlich anerkannt werden. Wir besuchen die Menschen im Asylbewerberheim auch mal außer der Reihe. Helfen beim Umzug. Werden zum Essen eingeladen. Das kann man nicht unbedingt in einer Honorarabrechnung abbilden und bezahlen. Aber man kann verstehen, dass es Zeit braucht, und es nicht ab der 3. Projektwoche eine lange TeilnehmerInnen-Liste gibt. Starre Regeln sind genau das, womit benachteiligte Menschen schlechte Erfahrungen haben. Ein Programm zu entwickeln, dass der Zielgruppe hier entgegen kommt, wäre eine beachtliche Leistung und ein toller Fortschritt.

Das sind meine Vorschläge. Wer wird das hier lesen?

Das Bundesministerium spricht mit Verbänden. Die verteilen das Geld weiter an Institutionen. Ich bin letztendlich und auf dem Papier Honorarkraft. Auch als offizielle Projektleitung. Auf Tipps, wie ich mich über dieses Blog hinaus äußern könnte, freue ich mich sehr.

 

 

 

#buendnissefuerbuerokratie #kooperierenmachtspass #verwaltungsgesellschaft

Dieser Text wurde von meiner super Kollegin Katharina Wessel begonnen und von mir weitergeführt. Es handelt sich um das Protokoll eines Vorgangs: Wir brauchten 5 Unterschriften von 4 Projektpartnern. Und so haben wir sie bekommen:

Mitte Februar
Mitteilung des Förderers, dass Kooperationsvereinbarung bis Ende Februar eingereicht werden sollte.

Etwas später
S. schickt Email an alle Bündnispartner, dass Kooperationsvereinbarung bis Ende Februar unterschrieben werden muss. Im Anhang befindet sich die Kooperationsvereinbarung.
Anmerkung: Bei jedem Bündnispartner gibt es einen Ansprechpartner fürs Projekt, der ist aber nicht in jedem Fall zeichnungsberechtigt.

Anfang März
S. hat Termin mit neuem Bündnispartner E. Bündnispartner E möchte aus rechtlichen Bedenken etwas in der Kooperationsvereinbarung ändern. S. ändert die Kooperationsvereinbarung.

Anfang März
S. hat einen Termin mit zeichnungsberechtigter Person 1 des Bündnispartners B. Sie besucht Person 1 in deren Privatwohnung. Zeichnungsberechtigte Person 1 unterschreibt die Vereinbarung.
S. hat einen Termin mit zeichnungsberechtigter Person 2 des Bündnispartners B. Sie besucht Person 2 an deren Arbeitsplatz. Zeichnungsberechtigte Person 2 unterschreibt die Vereinbarung.

Anfang März
S. und K. haben einen Termin mit Ansprechpartner des Bündnispartner Q (nicht zeichnungsberechtigt), um vorangegangenes Projekt auszuwerten. Nach dem Gespräch treffen sie zufällig zeichnungsberechtigte Person des Bündnispartners Q auf dem Flur, die Kooperationsvereinbarung in der Tasche. Der hat aber gerade keine Zeit und wünscht, dass ein Termin mit der Sekretärin ausgemacht werde. S. und K. sagen, dass sie Vereinbarung im Sekretariat abgeben werden, wenn Bündnispartner E unterschrieben hat. Einen Termin zu den inhaltlichen Fragen hat es ja gerade mit der Mitarbeiterin der zeichnungsberechtigten Person gegeben.

Anfang/Mitte März
S. versucht Termin mit Bündnispartner X auszumachen, um Kooperationsvereinbarung zu unterschreiben. Zeichnungsberechtigte Person ist in zweitem Büro arbeiten/außer Haus.

Zugleich versucht S. mit einer verantwortlichen Person bei Bündnispartner E zu sprechen. Schließlich gelingt es einen Termin auszumachen: S. wird Freitagmorgens gegen 8 Uhr auf dem Weg zu einem Termin außerhalb Leipzigs bei Bündnispartner E vorbeifahren.

Fast zeitgleich meldet sich Bündnispartner X – eine Unterschrift kann in der darauffolgenden Woche voraussichtlich bis Mittwoch erfolgen. Es ist Donnerstag.

Freitagmorgen. S. trifft zeichnungsberechtigte Person bei Bündnispartner E. Dieser findet das Projekt gut, lehnt es aber ab, den Vertrag ohne gemeinsame Rücksprache mit den MitarbeiterInnen zu unterzeichnen. Der Termin wird auf den Nachmittag verlegt.

Freitagnachmittag. S. trifft zeichnungsberechtigte Person des Bündnispartners E zum zweiten Mal. Man geht in das Büro der MitarbeiterInnen des Bündnispartners E. Diese unterbrechen ihre Arbeit. Nach einem 15minütigen Gespräch wird die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet.

Auf dem Heimweg hinterlässt S. Mappe mit Kooperationsvereinbarung bei Bündnispartner X, mit Bitte um Rückruf, wenn die Unterschrift erfolgt ist.
Ende März
S. ruft Bündnispartner X an. Die Unterschrift ist erfolgt.
K. holt unterschriebene Kooperationsvereinbarung bei Bündnispartner X ab und bringt sie zu Bündnispartner Q. Sie hinterlässt Mappe im Sekretariat, da zeichnungsberechtigte Person erst 1 Woche später wieder vor Ort.

31.3.15
K. erhält Anruf von zeichnungsberechtigter Person des Bündnispartners Q. So könne Kooperationsvereinbarung nicht unterschrieben werden. Sie einigen sich auf handschriftliche Änderung des betroffenen Absatzes. Außerdem sei Sekretärin des Bündnispartners Q krank und zeichnungsberechtigte Person erst wieder ab dem 13.4. erreichbar. K. könne entweder am nächsten Tag zwischen 7 und 8 Uhr vorbeikommen, das Sekretariat sei evtl. besetzt – oder ab dem 13.4.

15.4.15
S. fährt zu Bündnispartner Q und holt die Kooperationsvereinbarungen im Sekretariat ab.
Sie schickt ein Exemplar an den Förderer und schreibt zusätzlich eine Mail, in der sie sich für die grobe Verspätung entschuldigt.

22.4.15, 19:57 Uhr
S. verlängert das von K. begonnene Protokoll um eine weitere halbe Seite.

Inzwischen ist die Nachricht eingetroffen, dass das Projekt gefördert wurde.
Wir freuen uns wirklich.