Performativ entsorgt

- Ich wähle die AfD, ich habe schonmal erlebt, wie ein Staat zusammengebrochen ist. 
+ Was hat das konkret bedeutet? 
- Wie bedeutet? 
+ Was war anders? 
... 
- Ich durfte meine Sprache nicht mehr sprechen. 
(Gespräch mit Mann ukrainischer Herkunft)

Schon vier Jahre ist es her, da starteten meine Kollegin Katharina Wessel und ich das Projekt „Forum frei“. Wir beschrifteten 200 Sitzkartons mit diskriminierenden Zitaten aus Internetforen und bauten daraus eine Installation auf verschiedenen öffentlichen Plätzen in Leipzig und Halle. Die Menschen kamen vorbei, reagierten ganz unterschiedlich und einige der dann entstandenen Gespräche werde ich nie vergessen. Wenige Wochen später startete PEGIDA.

Gestern wurde die AfD mit 13% der Stimmen in den Bundestag gewählt, in Ostdeutschland waren es vielfach deutlich mehr, hier in Sachsen wurde sie sogar stärkste Kraft. Vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung, die wir vor vier Jahren nur als Schreckensszenario in Anträge geschrieben hatten. Und dennoch so vorhersehbar. Denn die gebrochenen Biographien, die laufen hier auf der Straße rum.

Wenn du Englisch lernen willst und das Amt zahlt das nicht, geh zu den Mormonen, Unterricht ist umsonst. (Gespräch mit älterem Mann)

Ich lebe in Leipzig-Süd, also auf der roten Insel Sachsens, und das passt ins Bild, denn ich bin ja Kulturschaffende. Da hatten wir nun also unsere Performance, hatten sogar unseren winzigen Mini-Shitstorm im LVZ-Forum („Kann es sein, dass das nur eine Marketing-Aktion der „Performance“-Firma Wessel&Hoffmann war, die außerhalb ihrer sonstigen Wirkungsstätte niemand kennt?“) und eine Menge Geschichten. Ja, ganz recht, Geschichten, denn das war die große Erkenntnis aus dem Projekt: Es ging immer nur an der Oberfläche um Meinungen. Darunter aber liegen Geschichten.

In den 90ern auf Usedom, da hat sich niemand um uns gekümmert. Ich war einfach nur nicht rechts, das reichte schon, damit die Nazis mich gejagt haben. - Und deine Eltern? - Die haben das nicht mitbekommen. - Aber was hast du denen denn erzählt, wenn du in eine Schlägerei verwickelt warst? - Wir haben uns doch gar nicht gesehen. Meine Mutter hat nur gearbeitet. Die hat mir nicht geglaubt. Erst als ihr Azubi einen Punker angezündet hat, hat sie mir geglaubt, was ich erzähle. Aber da war ich auch schon vorbestraft. (Gespräch mit jüngerem Mann)

Nicht alle der Menschen, die ich hier aus dem Gedächtnis zitiere, haben rechte Anschauungen vertreten. Aber sie alle haben lange von den 90ern erzählt. Von einer Zeit im freien Fall, ohne Ordnung. Manche haben, wie man so schön sagt, „die Kurve gekriegt“. Manche nicht. Manche bekamen eine Chance und nutzten sie. Andere arbeiten seit einem Vierteljahrhundert in prekären Jobs oder gar nicht.

Manche erinnern sich an Enttäuschungen, manche an Demütigungen. Möglicherweise ist das der schmale Grad, auf dem sich entscheidet, ob sich ein Mensch noch auf Demokratie einlässt.

Und es braucht eigentlich keine Performance, um diese Geschichten zu hören, es reicht, beim Sonntagsessen bei den Großeltern hinzuhören, beim Nachbarn nachzuhaken und sich ganz allgemein für andere Menschen zu interessieren. Ich selbst komme aus dem Westen und bin manchmal sehr schockiert, wie wenig Verständnis für die besondere Geschichte Ostdeutschlands hier vorzufinden ist. Natürlich, der Säxit, klasse Idee, wir lassen Sachsen einfach hinter uns, haha! Ostalgie, verstehen wir nicht, da gab es doch gar keine Reisefreiheit! Und überhaupt, die Ossis haben doch Kohl gewählt, das war eben dämlich!

Die Kommentare zur Wahl atmen einen ähnlichen Geist. Wie können die demokratischen Parteien Wähler_innen zurückgewinnen, fragt man sich da. Gar nicht! Zurückgewinnen kann man nur, was man schonmal hatte. Und viele Menschen sind bis heute ins politische System der BRD nicht integriert.

Das alles ist dennoch keine Entschuldigung, rechtsradikal zu wählen oder zu handeln. Ich habe KEIN Verständnis.

Die Frustration dahinter, die verstehe ich aber schon. Und das sind keine Sorgen und Ängste. Das ist Wut darüber, dass nie zugehört wurde. Der perfekte Nährboden für eine ekelhafte, rechtsradikale, menschenverachtende Protestpartei. Mit ihrem Gebrüll und Gehetze hat sie es geschafft, dass wir vier Jahre lang über Asylgesetze gesprochen haben, anstatt uns über das wirklich wichtige Thema zu beraten: Wie schaffen wir es, gleichzeitig die Geflüchteten und die Gedemütigten zu integrieren? Ich bin überzeugt, dass das möglich ist. Wenn wir es endlich versuchen würden.

Ich habe nichts gegen das Kopftuch, nur gegen die Burka. Ich mag das nicht, wenn ich Leuten nicht in die Augen gucken kann. In den 90ern habe ich bei Militärübungen der Amerikaner gejobbt. Einmal war ich der Bürgermeister von dem Dorf, das die sichern sollten. Und jeden Tag ging da der General rum und trug eine Sonnenbrille. Es war klar, wenn der zu mir kommt, sage ich ihm, dass er die absetzen soll. Er hätte das dann machen müssen, weil ich ja der Bürgermeister war. Aber an dem Tag, wo der zu mir kam, da hatte er die Sonnenbrille dann nicht auf. (Gespräch mit Mann Mitte 50)

Zurück zu unserer Performance – die ist aktuell wie nie und dennoch in die Jahre gekommen. Im Keller modern also seit Jahren hunderte rassistische Kartons, und wir wollen sie eigentlich nur noch loswerden. Deshalb werden sie jetzt performativ entsorgt. Diesen Prozess könnt ihr übrigens auf Facebook und Instagram verfolgen.

In gewisser Weise haben die Wähler_innen der AfD mit den demokratischen Parteien dasselbe gemacht: Wütend und schmollend und protestierend so gewählt, dass sich die Scheinwerfer gedreht haben. Leider nur bis zur AfD und nicht bis zu eben dieser Wählerschaft. Die den ganzen Prozess vermutlich auch selbst nicht so richtig reflektiert hat und damit keinen Schritt weiter ist als vorher. Aber Hauptsache: Performance. Hauptsache: Entsorgung. Demokratie? Sind wir nicht so richtig reingekommen, schmeißen wir in den Müll.

Kennen Sie schon die AfD? Die sind gut.
(derselbe Mann, zur Begrüßung, Oktober 2013)

3 Gedanken zu „Performativ entsorgt“

  1. Vielen Dank, Solveig, für das Hirnfutter. Seit einer Generation machen wir uns vor, die „Wiedervereinigung“ habe einfach so stattgefunden. Fast dreißig Jahre verpennt, eine gemeinsame demokratische und freiheitliche Basis zu schaffen.

  2. Ein wichtiger Text, der, meines Erachtens und im Gegensatz zu zahlreichen gegenwärtigen Analysen, in die richtige Richtung weist: der Frage, welche Integrationskraft die Staatsidee der „alten Bundesrepublik“ aufweist. Die Ostdeutschen waren Jahrzehnte vom Gedanken eins „Staatszweckes“ geprägt: dem Anspruch, dass ein Staat einen Sinn hat, nämlich: die Welt auch außerhalb (!) des räumlichen Gebietes des Staates und überzeitlich, also in Zukunft, durch seine Existenz besser zu machen! Für diesen „Auftrag“ legitimiert wird der Staat durch eine Geschichtserzählung, die seine Existenz über die Konstruktion von Kontinuität legitimiert. Die „alte Bundesrepublik“ kann diesem Anspruch nicht genügen. Sie war von vornherein als Provisorium bis zur „Wiedervereinigung“ konzipiert. Ihr „Staatszweck“ war die Herbeiführung der deutschen Einheit. Zu dieser Einheit kam es aber völlig überraschend und zu einem Zeitpunkt, als man sich politisch und ideologisch schon längst an eine dauerhafte Zweistaatlichkeit in Deutschland „gewöhnt“ hat. Die Folge: Die große Diskussion über ein neues, gesamtdeutsches „Staatsziel“, eine neue Kontinuität stiftende Geschichtsdeutung und das zukünftige Selbstverständnis des vereinigten Deutschlands in Europa und der Welt, die ihren Ausdruck in einer neuen und gemeinsam von Ost- und Westdeutschen erarbeiteten Verfassung gefunden hätte, unterblieb! Das Fazit: Die deutsche Einheit bleibt unvollendet und der oft unbewusst vorgetragene Protest der Ostdeutschen, sich nicht mit diesem Zustand abfinden zu wollen, wird immer wieder neue Formen annehmen, bis dieses zentrale Problem unseres Landes gelöst ist!

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