Die Inklusion ist ein Dauerthema.
Ein Menschenrecht, ein Prüfstein für das Bildungssystem, für die Gesamtgesellschaft. Zugleich ein mühseliges Geschäft für unterbezahlte Menschen und insbesondere Eltern, die nach der Geburt zu Sachbearbeiter_innen ihres eigenen Kindes werden (sollen, müssen, nicht wollen). Mareice Kaiser hat darüber auf ihrem Blog und in ihrem Buch ganz wunderbar geschrieben.
Und heute, da geht diese Nachricht um die Welt: Erstmals Gendefekt bei Embryo korrigiert. Offenbar gelang es den Forschern noch während der Befruchtung mit der so genannten Gen-Schere CRISPR den Gendefekt zu korrigieren. (vgl ebd.)
Das ist so science fiction-mäßig – ich kann mir beim besten Willen wirklich nur eine winzige Nagelschere vorstellen, mit der in einem bunten DNA-Strang herumgeschnippelt wird. Ich bin also offenbar völlig unqualifiziert, um zum technischen Hergang irgendetwas Sinnvolles beizutragen. Aber ich kenne Menschen mit und ohne (!) Behinderung. Ich kenne die sogenannten I-Kinder, die einen Integrationsstatus haben – bei manchen wundert mich das und ich mutmaße, ob die Wimpern bei irgendeiner Untersuchung in die falsche Richtung gezeigt haben. Und ob das nicht manchmal einer Schule auch ganz recht ist, den einzigen I-Platz an ein „falsche-Wimpernrichtung-Kind“ zu vergeben.
Dann kenne ich auch I-Kinder und Erwachsene, die schon so lange mit einem imaginären I über dem Kopf herumlaufen, dass sie davon geprägt wurden. Manchmal nerven die mich ganz schön, weil sie immer soviel Schlechtes erwarten. Wenn wir aber eine gemeinsame Ebene gefunden haben, dann sind das oft die spannendsten und interessantesten Menschen. Es lohnt sich also, so ein I beiseite zu boxen! In der Kulturpädagogik habe ich mit diesen I-Kindern oft viel Spaß gehabt. Weil die nämlich eine Menge zu erzählen hatten.
Und natürlich gibt es auch die Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, zu denen ich auch schon Kontakt hatte, allerdings weniger intensiv. Was sich sicher auch nochmal ändern wird.
Wenn wir ehrlich sind, kennen wir also wahrscheinlich alle eine ganze Menge mehr Menschen mit irgendwelchen Einschränkungen, als wir uns im Alltag bewusst machen.
Und nun denke ich wieder an die hochwissenschaftliche Nagelschere und das Reparieren all dieser Behinderungen. Und ich versuche fair zu sein: Natürlich würde ich all diesen Menschen von Herzen gönnen, einfach keinerlei Einschränkungen zu haben. Gäbe es eine Welt, in der wir alle Embryos komplett gesund schnippeln könnten, in der kein einziger aussortiert und abgetrieben würde, wo die ganze Technik ausschließlich zu gesund geborenen Kindern führen würde – wer würde sein eigenes Kind davon ausschließen wollen? Wer würde sich selbst als Elternteil davon ausschließen wollen?
Mal abgesehen davon, dass die Welt eben nicht so ist, macht mir aber nun ein anderer Aspekt große Angst: Was macht eine solche Technik mit unserer menschlichen Fähigkeit, uns mit Veränderungen, gescheiterten Ideen, Enttäuschungen auseinanderzusetzen und Neues daraus zu entwickeln?
Ich habe den Eindruck, dass die Nobelpreis-verdächtige Nagelschere im DNA-Strang in erster Linie etwas anderes wegschneidet, als die Behinderung, nämlich die an sich geniale Fähigkeit unserer Gehirne, immense Anpassungsleistungen zu vollbringen. Wir verschieben den Anspruch mit einer körperlich/geistig/seelischen Veränderung klarzukommen ins Private, wo Menschen damit verständlicherweise völlig überlastet sind. Anstatt endlich mal daran zu arbeiten, die Fähigkeit zur Unterschiedlichkeit zu trainieren, deren Mangel uns letztendlich alle im Wortsinn behindert.
Mir tun auch all die Nicht-I-Kinder leid, wenn sie in eine Gesellschaft geboren werden, die sie nur gesund, intelligent, schlank, beweglich usw. akzeptiert. Sie alle (auch ich) könnten morgen einen Unfall haben und plötzlich auf die Seite der I-Kinder wechseln. Ihr Wert ist an unsichtbare Spinnweben geknüpft, an die Vorstellung von „das funktioniert“, „das kenn ich, das ist vertraut“, von „darauf bin ich stolz“. Diese Spinnweben können so leicht reißen, und dann müssen sie und ihr ganzes Umfeld von vorn anfangen.
Viele schaffen das. Manche verzweifeln. Das ist kein persönliches Versagen, sondern Spiegel einer Leistungsgesellschaft, die es verlernt hat, Menschen in ihrer Nicht-Perfektion anzunehmen. Und die deshalb meiner Meinung nach immer mit einem Bein in der Depression steht.
Und da hätten wir natürlich eine Volkskrankheit, an der auch sehr sehr viele Nicht-I-Kinder leiden.